Könnte man Politiker so wie Bundestrainer auch in anderen Ländern engagieren – viele Spanier und Amerikaner würden wohl sofort Angela Merkel verpflichten, wenn sie demnächst frei würde. Sollte Donald Trump im November nicht wiedergewählt werden, wäre es für ihn auf dem internationalen Arbeitsmarkt wahrscheinlich erst mal schwierig. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern dagegen stünden, jede Wette, alle Türen offen. Die Frau ist so etwas wie das Ryan-Gosling-Phänomen unter den Politikern: Fast zu nett, um wahr zu sein. Vor allem zu gut.
Nach dem Massaker in Christchurch vor gut einem Jahr schaffte es die 39-Jährige auf bemerkenswerte Art, das Land zu einen. Nun hat sie Neuseeland ebenso souverän durch die Corona-Krise manövriert. Trotz wenigen Infizierten und Toten erklärte Ardern früh den Lockdown und rief alle Menschen dazu auf, sich im Zweifelsfall so zu verhalten, als hätten sie Covid-19 – also mit maximaler Verantwortung gegenüber anderen. Umfragen zufolge glauben fast 90 Prozent der Neuseeländer, dass ihre Regierung die richtigen Maßnahmen ergreift. So einen Wert muss man erst mal erreichen in einer Demokratie.
Am Montag ließ die Regierungschefin dann noch seelenruhig ein Erdbeben über sich ergehen, während sie gerade einem TV-Sender ein Live-Interview gab. Sie schaute kurz nach oben, sagte mit dem gewohnt großen Lächeln: »Keine schweren Scheinwerfer über mir«, und setzte das Gespräch fort. Terror, Pandemie, Naturgewalt – diese Frau kann ganz offensichtlich nichts erschüttern. Der britische Guardian orakelte, Boris Johnson dagegen hätte sich wahrscheinlich sofort unters Pult geflüchtet.
Aber da ist ja noch etwas Bemerkenswertes: Im Gegensatz zu so vielen anderen weiblichen Politikerinnen oder First Ladies wird weniger Arderns Kleidungs-, sondern vor allem ihr Führungsstil diskutiert. Hallelujah!, will man da sofort losrufen. Schließlich sind ihre Empathiefähigkeit und ihr kommunikatives Talent wirklich wichtiger und beeindruckender als irgendwelche Schulterpolster, Scrunchies, Slogan-Jacken. Andererseits ist das in unserer optisch fixierten Welt ja etwa so ungewöhnlich wie bei der Tour de France nicht über Doping zu reden.
Also woran liegt es? Ardern zieht sich keineswegs vollkommen blass oder zurückhaltend an. Sie trägt gern rosafarbene Blazer, Blumen-Muster, lange oder prägnante Ohrringe, Eyeliner. Manchmal sind ihre Haare so sichtlich mit dem Lockenstab aufgedreht, dass sich ein paar Strähnen lustig davonrollen. Ardern sieht immer gut aus, aber im Grunde kleidet sich die junge Regierungschefin weitgehend wie viele andere Frauen da draußen auch – und genau das ist wahrscheinlich der Trick.
Ardern wird gern als »relatable« bezeichnet. Die Leute können sich mit ihr identifizieren, vor allem Frauen verständlicherweise. Wenn sie Livetalks auf Facebook macht, springt manchmal ihre kleine Tochter durchs Bild – eben Home-Office-Alltag. Dieses Staatsoberhaupt predigt nicht nur das zu Hause bleiben während Corona, sie weiß auch, was das für viele bedeutet. Wenn Ardern dazu ein ausgewaschenes Sweatshirt trägt, wirkt das nicht inszeniert, sondern authentisch.
Wie andere Repräsentanten auch trägt die Neuseeländerin häufig einheimische Designer, die allerdings außer Emilia Wickstead international wenig bekannt sind, sich also kaum für das Ausweiden in Hochglanz-Magazinen eignen. Auch für das Cover des Time Magazins diesen Februar wählte sie einen Entwurf des lokalen Labels Ingrid Starnes: ein schlichtes weißes Seidenshirt, drei Jahre alt. Das ist so normal, dass es schon fast wieder verrückt ist.
Unaufgeregt, ohne von Stylisten entwickelte Markenzeichen, weniger optische, mehr sachliche Agenda. Ardern folgt keinen Trends, und setzt auch keine. Wo jetzt ständig von »the new normal« die Rede ist – vielleicht wird dieser Stil ja mal das Neue Normal in Sachen Powerdressing.
Nicht zu verwechseln mit: Normcore
Typischer Instagram-Kommentar: »Wusstet ihr, dass auf einen Neuseeländer sechs Schafe kommen?«
Passender Film: »Unbreakable«