Punk ist nicht tot, nur woanders

Wenn alle Welt in kaputten Jeans, Nieten und mit bunten Haaren herumläuft, sind Krawatten, wie jetzt bei Campino gesehen, dann der neue Ausdruck von Rebellion und Widerstand?

Weißes Hemd, rote Krawatte, darüber eine Funktionsjacke. Klingt wie die neue, allwettertaugliche Uniform der Deutschen Bahn? Martin Schulz bei schlechtem Wetter? Nein, so präsentierte sich am Mittwoch Tote-Hosen-Sänger Campino beim Interview auf dem Rasen des FC Liverpool, wo er dem Champions-League-Spiel gegen Manchester City beiwohnte.

Ist das nun also der Beweis, dass der Punk-Geist der Band endgültig weichgespült ist? Nachdem Campino sich 2013 noch empörte, dass die CDU-Spitzenpolitiker nach ihrem Bundestagswahlsieg öffentlich zum Toten-Hosen-Mitgröler »Tage wie diese« schunkelten, zeigte er sich Ende letzten Jahres eher als Merkel-Sympathisant und ermutigte die Kanzlerin in einem Radiointerview zum Durchhalten.

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Auch dass Campino gegen Jan Böhmermanns Kommerzkritik moserte, mit der dieser die deutsche Popmusik aufs Korn genommen hatte, kostete ihn Glaubwürdigkeitspunkte. Seine Äußerung über das »Böhmermannsche Zeitgeistgeplapper« beim Echo vor einem Jahr löste auf Twitter eine (sehr unterhaltsame) Sammlung an »Dingen, die mehr Punk sind als Campino« aus - darunter Zahnzusatzversicherungen, elektrische Teelichter oder Dunstabzugshauben und die Lange Nacht der Museen.

Was aber, wenn Campinos neues Äußeres weniger Zeichen von politischer Anpassung als tatsächliches Abgrenzungsmerkmal ist?
 Mit klassischer Punk-Kleidung kann man heute schließlich auch niemanden mehr schocken, geschweige denn eine Anti-Haltung ausdrücken.

Zerschlissene Jeanshosen gibt es vorgefertigt in der Designer-Version - je kaputter, desto teurer (die destroyed Jeans der bei Kanye West oder Justin Bieber sehr beliebten US-Marke Fear of God liegen bei rund 1000 Euro). Ähnliches gilt für auf zerrissen getrimmte und mit Patches übersäte Jeansjacken und -westen, einst einem essentiellen Punk-Kleidungsstück. Die »Kutte« aus der aktuellen Kollektion von Vetements mit Levi’s wurde für knapp 2.000 Euro verkauft. Auch Nieten haben längst Einzug in die Designermode gehalten, vielleicht am prominentesten in der erfolgreichen »Rockstud«-Serie des italienischen Luxuslabels Valentino. Und sogar Fanschals (etwas, das wir im Stadion statt Krawatte deutlich eher um Campinos Hals vermutet hätten) sind in den letzten Saisons zum einfachen Mode-Accessoire ohne wirkliche Zugehörigkeitsbedeutung geworden.

Ist es also in Zeiten, in denen sich - modisch gesehen - die Allgemeinheit vermeintlich punkig gibt, ein Ausdruck des Anti-Establishments und damit ganz im Sinne des Punk, sich besonders bieder zu kleiden? Fraglich, ob Campino das mit seinem Versicherungsvertreter-Aufzug ausdrücken wollte. Fest steht: Seit der Emo-Bewegung vor rund zehn Jahren ist uns keine äußerlich so klar durch ihren Anti-Style zu identifizierende Subkultur wie einst die Punks mehr untergekommen. Die Jugend scheint modisch gezüchtigt. Aber darf sich nicht auch ein Punk mal äußerlich verändern?

Nur über die Funktionsjacke müssten wir mal reden.

Wird getragen von:
SPD-Politikern, DB-Mitarbeitern, Die-Partei-Mitgliedern

Wird getragen mit: Bügelfreiem »Classic Fit«-Hemd, Unterhemd, Zahnzusatzversicherung
Typischer Facebook-Kommentar: Ist Campino jetzt auch Trainer?

Foto: Twitter