Riovolutionär!

Zu spät? Nein, Hauptsache, Europa nimmt Sergio Rodrigues überhaupt mal wahr: 50 Jahre nach seinen größten Entwürfen wird Brasiliens wichtigster Möbeldesigner endlich auch hier entdeckt.

»Ein guter Stuhl«, sagt Sergio Rodrigues, »ist die Summe aus Schönheit und Komfort. Er muss dem Körper Halt bieten, fast so wie Mutters Schoß.« Ein Blick auf seinen Mole-Sessel genügt, um zu begreifen, was der Brasilianer damit meint: ein Thron des Rückzugs ist das, wuchtig, und weich – eine dick gepolsterte Antithese zur Askese der klassischen
Moderne, deren Kind der 82-jährige Architekt und Designer aber trotzdem irgendwie ist. Nur hat er sie auf ganz eigene Weise in etwas Neues übersetzt, so wie die Sambasänger, die den Cool Jazz aufsogen, um daraus den Bossa nova zu kreieren.

Den Sessel schuf Rodrigues vor einem halben Jahrhundert. Möbel wollte er entwerfen, die den Geist Brasiliens atmen, mit fließenden Linien, geschwungen wie die Strände und Berge Rios. Aus warmen, natürlichen Materialien wie Eukalyptusholz, Leder und Fell. Das gelang ihm so gut, dass Oscar Niemeyer beschloss, seine legendären Bauten in Brasilia mit Möbeln von Rodrigues einzurichten. Mit seiner Firma »Oca Industries«, wo in den letzten fünfzig Jahren mehr als 1200 Möbelentwürfe entstanden, schrieb Rodrigues brasilianische Designgeschichte. In Europa allerdings blieb er weitgehend unbekannt. Jetzt hat sich endlich jemand gefunden, diese Bildungslücke zu schließen: Der Möbelhersteller Classicon hat sich die Vertriebsrechte für neun Rodrigues-Klassiker gesichert. Zum Beispiel den Lounge Chair »Diz« aus dem Jahre 2001, dessen Form so anschmiegsam ist, dass man nicht glauben mag, dass er aus hartem Holz ist. Vielleicht ist das ja die Lehre, die uns designversessenen Europäern einer wie Sergio Rodrigues beibringen kann: Sinnlichkeit und klare Formen müssen kein Widerspruch sein.