161 bis 180

Ein Chefredakteur unter Beschuss. Ein zweiter Chefredakteur, der sich gerne als »Arschloch« bezeichnen lässt. Robbie Williams, Donna Leon und ein großes Interview mit Rudi Carell.

    Moment 161: 2015

    Frank Plasberg ist dankbar für eine Rechtfertigung, die ihm das SZ-Magazin geschenkt hat.

    SZ-Magazin, das heißt für mich: Vorfreude jeden Freitag und die Hoffnung: Bitte lass es kein -Modeheft sein. Die finde ich strunzlangweilig. Und die magischen Momente? Ja, die gab es -sicher. Haben sie mein Leben verändert? Nein. Das galt bis zur Ausgabe Nr. 13/2015. Es ist 7.14 Uhr, ich schaue ins Inhaltsverzeichnis und ahne sofort: Heute ist der Tag der Erlösung. Ich bin nicht mehr allein, ich kann vielleicht sogar ab sofort vorsichtig öffentlich drüber reden, dass ich es auch getan habe. Immer öfter tue. Mich aber bis heute auch dafür schäme, die Spuren verwische, wenn ich im Auto nach Hause komme. Nein, ich war nicht im Swingerclub. Viel brisanter, ich habe im Auto heimlich WDR 4 gehört. Und da schreibt Tobias Haberl im SZ-Magazin, dass er das Gleiche tut. Bayern 1 hören, was so was ist wie WDR 4 mit mehr Glockengeläut. Er begründet das mit einer Art Flucht vor dem Gute-Laune-Terror der Formatradios. Und mit der vertrauten Musik. Früher Karel Gott, heute Stevie Wonder. Und mit den echten Menschen am Mikrofon. Tobias Haberl ist mit seinen Erkenntnissen seiner Zeit weit voraus. Er ist 39, ich habe länger gebraucht, ich bin 57. Aber jetzt wage ich mein Comingout, auch meiner Frau gegenüber. Ich lasse WDR 4 eingestellt, wenn ich das Auto abstelle. Ehrlich hört am längsten. Danke, SZ-Magazin.

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    Moment 162: 1996

    Meistgelesen diese Woche:

    Wolfgang Tillmans porträtiert den jungen Robbie Wiliams, ist aber mit dem Hammerfoto nur mittelglücklich.

    Ich habe viele Fotos für das SZ-Magazin gemacht, das hier ist vielleicht nicht mal mein liebstes - aber es illustriert ganz gut das Dilemma, in zwanzig Minuten ein Titelfoto von einem Superstar in einem Hotelzimmer zu machen.
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    Moment 163: 2009

    Heimweh, Angst und Ungewissheit: Deutsche Soldaten sind in Afghanistan stationiert und schreiben an ihre Familien. Das SZ-Magazin druckt die bewegendsten Briefe, darunter auch einen von Oberstleutnant Bertram Hacker.

    Ein Jahr nach dem Heft sind die Feldpostbriefe als Buch erschienen, und ich bin mit den Autoren des Artikels auf Lesereise gegangen. Im Münchner Literaturhaus haben Schauspieler aus den Soldatenbriefen vorgelesen, auch aus meinem. Es war bewegend, zuzuhören, wie jemand anders meinen Brief vorliest - und so ganz anders liest, als ich ihn vorgelesen hätte. Bei jeder Lesung, ob in München, Stuttgart, Frankfurt oder Hamburg, haben die Zuhörer vor allem nach den Details des Einsatzes in Afghanistan gefragt. Ich hoffe, die Redakteure waren nicht verärgert, denn ich habe die meisten Fragen gestellt bekommen, nicht sie - ich zumindest hatte viel Spaß dabei.

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    Moment 164: 1995

    Der Autor Wolfgang Büscher wandert einmal um ganz Berlin herum.

    Als Deutschland im Rohzustand war, in den frühen Neunzigern, fuhr ich in einem Bummelzug aus Berlin heraus, und was ich da draußen sah im magischen roten Novemberlicht, zwang mich, etwas zu tun, was ich noch niemals getan hatte: Zu Fuß durch das alles hindurch, physisch eintauchen in diese rohen Bilder, einmal um ganz Berlin herum. Ich hätte es auch getan, wenn sie in München abgewinkt hätten, aber sie sagten: Ja, her damit. So fing es an. Aus fünf Tagen um Berlin herum wurden achtzig Tage von Berlin nach Moskau, wurde die Wanderung um Deutschland herum, wurden drei Monate zu Fuß durch Amerika. Wann ist ein Magazin ein großes Magazin? Wenn es Dinge hervortreibt, die größer sind als es selbst. Danke, ihr Münchner, ich liebe euch!

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    Moment 165: 2006

    Rudi Carrell gibt dem SZ-Magazin das letzte große Interview vor seinem Tod. Ein unvergessener Moment für viele, unter anderem für die »Tagesthemen«-Moderatorin Caren Miosga.

    Obwohl er wusste, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, war er in der Lage,
    Sätze zu sagen wie: Er wolle keine öffentliche Beerdigung, aus Angst, die Jacob Sisters könnten auftauchen. Was für ein wacher Geist! Was für ein Interview!

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    Moment 166: 2006

    Der Autor Sebastian Glubrecht schreibt die tragische Geschichte eines alten Ehepaares. Diese Geschichte ist für die »Frankfurter Rundschau«-Chefredakteurin Bascha Mika ein ganz besonderer SZ-Magazin-Moment:

    Es gibt Geschichten, die liest du und vergisst sie nie wieder. Sie springen dich an und graben sich ein. Ein so starker Moment ist rar - auch wenn wir Journalisten fast pausenlos mit Texten beschäftigt sind. Das SZ-Magazin hat mir einen dieser besonderen Momente beschert. Mit dem Porträt von Sebastian Glubrecht über einen alten Mann, der seine alte Frau erschoss. Aus Liebe. Manchmal reicht schon ein solcher Moment, um ein wunderbares Blatt niemals missen zu wollen.

    Sebastian Glubrecht erinnert sich:

    Dreimal traf ich Herbert Bauer. Beim letzten Treffen holte er eine Pistole aus dem Regal und richtete sie auf mich. »So habe ich sie erschossen!«, rief er. »Einfach so.« Tränen liefen ihm über das Gesicht. Eine Weile zuvor war er aus dem Gefängnis auf Bewährung nach Hause entlassen worden. Es bestand keine Fluchtgefahr und auch sonst keine Gefahr. Herbert Bauer war fertig mit seinem Leben. Er hatte sein Gretchen getötet, seine Frau, seine große Liebe. Sie war krank geworden, Depressionen, Autoimmunkrankheit, Nervenklinik, irgendwann wollte und konnte sie nicht mehr. Sie wollten gemeinsam aus ihrem Leben gehen, das sie gemeinsam aufgebaut hatten. Er erschoss sie auf einem Waldparkplatz und fand danach nicht mehr die Kraft, sich sein bisschen Restleben auch noch zu nehmen. Jeden Tag warf er sich vor, dass er diesmal nicht mit ihr gegangen war. Ob die Pistole, die er auf mich richtete, eine Attrappe war? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Herbert Bauer der traurigste Mensch war, dem ich in meinem Leben begegnet bin.

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    Moment 167

    Kurt Kister, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, schaut sich seit vielen Jahren sehr genau an, was die Kollegen im Magazin so veranstalten - und weil es ihm ganz und gar nicht wurscht ist, muss er dabei an Würste denken.

    Man hat mir gesagt, ich solle für das SZ-Magazin keine blöde Gratulation schreiben. Gut, mache ich nicht. Ich liege leider schon seit mehr als dreißig Jahren der Zeitung bei, das Magazin erst seit 25. Als wir beide jünger waren, habe ich gelegentlich für das Magazin schreiben dürfen. Das darf ich heute nicht mehr, wahrscheinlich weil die beim Magazin der Meinung sind, ich sei zu alt und zu stieselig für das Magazin. Das Magazin war erstaunlicherweise immer irgendwie jung und stets jünger als ich, obwohl ich auch mal jünger war, aber nie jünger als das Magazin. Es gab mal eine Zeit, da dachten garstige Kostensenker darüber nach, ob das Magazin nicht vielleicht zu teuer … Nein, das war es nie und ist es nicht. Für mich alten Stiesel ist die SZ ohne Magazin so wie Weißwürste ohne Weißwurstsenf - vielleicht möglich, aber eigentlich ungenießbar. Es ist schön, dass es das Magazin in unserer Zeitung gibt. Und besonders schön ist es, dass es so ist, wie es ist. Das war jetzt eigentlich eine blöde Gratulation. Egal, ich darf ja sowieso nicht im Magazin schreiben.

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    Moment 168: 2004

    Auch zehn Jahre danach von grausamer Aktualität: Der Reporter Ariel Hauptmeier beschreibt die Festung Europa am Beispiel der spanischen Exklave Melilla.

    Nie werde ich vergessen, wie ich mit dem Fotografen Heinrich Völkel bei dem jungen Patrick saß und Kekse mümmelte - in seinem Zelt, das er aus Stöcken und Plastiksäcken gebaut hatte, in Sichtweite des monströsen Grenzzauns von Melilla, der spanischen Exklave in Marokko. Ich habe Kontakt zu Patrick gehalten, heute lebt er dagegen wie ein König. 2007 gelang es ihm doch noch, den Zaun zu überklettern, er ging nach Madrid und lernte dort, beim Betteln, einen greisen Engländer kennen, der ihn seitdem in seinem Chalet im Nobelvorort Escorial wohnen lässt. In Europa angekommen ist Patrick aber noch immer nicht: Er sucht weiter einen Job.

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    Moment 169: 2001

    Leander Haußmann inszeniert ein Modeheft als Fotoroman: Die ganze Ausgabe ist ein Krimi, mit Handlung und verteilten Rollen, mit bekannten Gesichtern und großem Drama.

    Es gibt so Sachen, die man mal gemacht hat, die liegen so jenseits dessen, was man je wieder gemacht hat, dass es einen in großes Erstaunen versetzt, wenn man wieder damit konfrontiert wird. Wie dieser Fotoroman, ein mystischer Krimi, mit einem toten Model, das Ophelia gleich in einem Teich schwamm, und einer Kommissarin, die ermittelte. Eine Mode-Fotostrecke, aber wirklich cool gemacht, wie ich feststellen musste, als ich mir das Ding gerade noch mal ansah. Den damaligen Redakteur habe ich jetzt nach all den Jahren wieder getroffen. Er ist inzwischen ein erfolgreicher Autor. Irgendwie habe ich mich damals ziemlich zickig verhalten, aber das scheint vergessen zu sein, denn ich realisiere gerade einen Film nach einem Bestseller, den er in der Zwischenzeit geschrieben hat. Das Buch heißt Das Pubertier, und der Autor heißt Jan Weiler.
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    Moment 170: 2008

    Das SZ-Magazin mag Donna Leon, und die Bestseller-Autorin mag das Magazin - ein Jahr lang versucht sie sich der Redaktion zuliebe sogar als Kolumnistin. Die Themenvorgabe kommt ihr aber, ehrlich gesagt, auch sehr entgegen.

    Ich hatte einen Traumjob: Ich sollte über das schreiben, was ich liebe. Also schrieb ich über Italien, über das Mit- und Gegeneinander der Menschen dort, über die Kreuzfahrtschiffe in Venedigs Altstadt, über Mord und Moral. Ich habe diese Aufgabe geliebt - und bedanke mich für das Vertrauen, das die Redaktion in mich gesetzt hat. Alles Gute für die nächsten 25 Jahre!

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    Moment 171: 2008

    Kuschlig: Der Artikel »Völlig weichgespült« behandelt das merkwürdige Wohlfühlverhalten der neuen Wellness-Gesellschaft. Die Illustratorin Sarah Illenberger fertigt dafür Organe aus Wolle, ein Hirn, ein Herz. Sie schildert, wie eines davon kurz darauf eine völlig andere Bedeutung erhält.

    Nachdem das Heft erschienen war, schrieb mir ein Mann: Seine Frau lag im Krankenhaus, sie hatte Krebs, es war alles sehr traurig. Der Mann fragte, ob er das Herz kaufen könne, also einen schönen Ausdruck des Bildes. Er wollte seiner Frau etwas schenken, was ihr seine Liebe zeigt, was ihr aber vor allem auch Kraft gibt in der schweren Zeit. Er wollte etwas, woran sie sich festhalten kann. Ich ließ ihm einen großformatigen Ausdruck machen. Ich weiß nicht, wie es den beiden später ergangen ist, aber ich wünsche mir sehr, dass der Frau das Herz ein bisschen geholfen hat.

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    Moment 172: 2001

    Das SZ-Magazin veröffentlicht einen Artikel über den japanischen Prinzen Naruhito. Der Chefredakteur Jan Weiler entscheidet sich spontan für eine etwas heikle Titelzeile. Das, was folgt, ist mit der Formulierung »unfassbarer Totalirrsinn« nur höflich umschrieben.

    Wir saßen schon eine Stunde über der Titelzeile für unser Heft. Darauf abgebildet waren der japanische Prinz Naruhito und seine Gattin Masako bei ihrer Hochzeit. Die beiden bekamen damals keinen für die Thronfolge benötigten Sohn, darum ging es in der Titelgeschichte.

    Schließlich entschieden wir uns für eine sehr knappe Überschrift: »Tote Hose«. Ich ließ sie in den Schritt des Prinzen montieren, und alle durften ins Wochenende. Eine Woche später erschien das Heft, und der erste Leser, der sich telefonisch über das Cover beschwerte, war Campino. Ich nahm an, dass er mich wegen Titelmissbrauchs tadeln würde, aber er erklärte mir: »Das kannst du mit denen nicht machen. Das ist nicht so ein Reihenhaus-Adel wie in Monaco. Die Kaisertreuen in Japan sind harte Hunde.« Campino war in der Welt rumgekommen. Er kannte sich aus. Und er behielt Recht.

    Nachdem das Heft einen Tag später auch in Japan erhältlich war, brach dort ein Orkan der Entrüstung los, von dem ich am Sonntag erfuhr, als mich der SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz zu sich in die Redaktion bat, wo er mir das Ausmaß meines Fehltrittes schilderte: Nicht nur, dass der SZ-Korrespondent das SZ-Schild von seiner Wohnungstür abschrauben musste, nachdem er Todesdrohungen erhalten hatte. Nicht nur, dass es eine Demo vor der deutschen Botschaft gegeben hatte. Nicht nur, dass mein Bild auf allen japanischen Zeitungen zu sehen war, nein: Das deutsche Außenministerium hatte sich bei Kilz gemeldet und mitgeteilt, dass man die Japaner kaum vom Walfang werde abhalten können, wenn man sie gleichzeitig derart beleidige. Kilz gab mir den Rat, mich beim japanischen Kaiserhaus zu entschuldigen oder ersatzweise sechs Monate in das Innere eines Vulkans in der Eifel zu entweichen.

    Am Montag beantwortete ich sämtliche Anfragen von empörten Japanern aus München (die mir ziemlich rechtsnational vorkamen) und schrieb einen Entschuldigungsbrief, der nicht mit Eigen-bezichtigungen der Unfähigkeit und dem Ausdruck tiefster Scham geizte. Ich ließ den Brief übersetzen, und er wurde zum japanischen Konsulat gebracht, von dort zur japanischen Botschaft und von dort zum kaiserlichen Hofamt nach Tokio.

    Am Mittag rief ein wütender Mann aus Japan an. Wir sprachen Englisch, also ich jedenfalls. Nach zehn Minuten wurde mir klar, dass ich gerade ein Live-Interview im japanischen Radio gab. Ich gab mir große Mühe, die Bedeutung der Redensart »Tote Hose« zu erläutern, aber der Mann unterbrach mich ständig. Irgendwann legte ich auf, weil ich mich fühlte wie ein oberpfälzischer Dorfmetzger auf -iner veganen Hochzeit.

    Den Rest des Tages wartete ich auf meine Füsilierung durch die Gesellschafterversammlung des Süddeutschen Verlages, die aber nicht eintrat. Dafür erhielt ich am nächsten Tag eine auf Deutsch abgefasste Depesche vom kaiserlichen Hofamt. Abgesehen davon, dass ich mich mit einem fünfjährigen Einreiseverbot abzufinden hatte, teilte man mir offiziell mit, dass meine Entschuldigung angenommen sei.

    Danach verschwand ich sofort aus den Zeitungen. Nur das Verbrauchermagazin Focus dackelte hinter der Nachrichtenlage her und schrieb am darauffolgenden Montag: »Wieder Kummer beim SZ-Magazin«. Gähn. Jahre später hat der Bruder des Prinzen Naruhito, Prinz Akishino, mit der Zeugung des Prinzen Hisahito die Thronfolge gesichert. Hans Werner Kilz hat mir gestanden, er habe das Cover damals eigentlich ganz lustig gefunden. Ich selbst denke heute gerne an die Geschichte, denn sie hat meinen Sprachschatz um eine hübsche Wendung bereichert, die sich in der Mitteilung des kaiserlichen Hofamtes an mich befand. Ich verwende sie, wenn sich meine Kinder für irgendeinen Blödsinn verantworten müssen. Sie lautet: »Wir sind sehr angetan vom Grad der Zerkrnirschung.«
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    Moment 173: 1994

    Der Redakteur Lars Reichardt erlebt seinen ersten SZ-Magazin-Moment: Er schreibt
    einen Artikel für das Heft und stößt auf verblüffende Offenheit.

    Meine erste Geschichte: Mit Schatzsuchern tauchen vor Haiti. Es spielte gar keine Rolle, dass wir nichts fanden. Da wusste ich, bei dem Magazin bist du richtig.

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    174: 2010

    Mauern ohne Ende: Bastian Obermayer und Rainer Stadler schreiben eine Reportage über den Missbrauch im Kloster Ettal. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hält die Titelgeschichte bis heute für einen Meilenstein.

    Dieser Text hat uns in Bielefeld intensiv beschäftigt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Vorgängen in Institutionen. Es ist eben nicht der einzelne Täter - - die Institution und die religiösen Machthaber mit ihren verlogenen Überlegenheitspostulaten sind das Problem. Der Bericht über jahrzehntelangen Missbrauch und Misshandlungen im Kloster Ettal hat das überzeugend gezeigt.

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    175/176/177/178: 1995

    Christian Kämmerling, viele Jahre stellvertretender Chefredakteur, schafft es immer wieder, neue Künstler für die Edition 46 zu gewinnen. Mit Jeff Koons und Richard Prince läuft es ganz gut. Der Künstlervertrag aber, den Kämmerling mit Sigmar Polke aushandelt, ist eher … nun, das erzählt Kämmerling am besten selbst:

    Das »Schumann’s« war damals noch an der Maximilianstraße. Ich erwähne das, weil wir da immer die besten Ideen hatten. Gelegentlich auch die schlechtesten. Man durfte rauchen, man wollte trinken. Wir waren jung, wir waren abenteuerlustig, wir hatten noch Haare auf dem Kopf. Das große Thema, wenn wir zusammensaßen: Wie können wir, sprich das neugeborene SZ-Magazin, den beiden altehrwürdigen Elefanten, FAZ-Magazin und Zeit-Magazin, Dampf unterm  Hintern machen?

    Wie wäre es, zum Beispiel, wenn ein berühmter Künstler das Heft in ein Kunstwerk verwandelt? Am besten natürlich der berühmteste Künstler der Welt. Ich werde das lange Schweigen am anderen Ende der Leitung nicht vergessen, als ich Anselm Kiefer endlich am Draht hatte. Er war verblüfft, gelinde gesagt. Zum einen, weil er bislang nur Kunstwerke geschaffen hatte, die zehn Meter lang oder 100 Tonnen schwer waren. Ja, richtig gehört: Das Format, über das wir reden, misst 29 mal 21 Zentimeter. Zum zweiten: Sotheby’s hatte gerade den Rekordpreis für ein Werk von Kiefer erzielt, eine Mil­lion Dollar. Ja, richtig gehört: Das Honorar, das wir zahlen können, ist 200 Mark pro Seite. Zum dritten: Die Zeit drängt, wir haben schon Mai, und – ja, richtig gehört – im November ist Deadline. Ach ja, noch was: Wir wissen natürlich, dass Sie strikt gegen Interviews sind, Herr Kiefer. Deshalb hätten wir gern eins.

    Anselm Kiefer sagte zu. Im November holte ich die fertigen Seiten ab, ein großer Moment. Das Heft, das ein Kunstwerk war, erschien als Ausgabe Nr. 46/1990. Wir beschlossen, jedes Jahr so weiterzumachen. Ein weltberühmter Künstler nach dem anderen, immer in Ausgabe Nr. 46. Die Edition Nr. 46 war geboren.

    Kürzlich traf ich Jeff Koons in New York zufällig auf der Straße. Wir konnten uns beide nicht mehr erinnern, wann genau er an der Reihe gewesen war (es war 1992). Koons lebte in München damals, unglaublich, oder? Zusammen mit der Pornodarstellerin Cicciolina. Ihr gemeinsames Baby, Ludwig, war die Inspiration für seine Nr. 46. Ludwig ist heute 22.

    Nicht immer war uns das Glück beschieden, Künstler auf dem ­Höhepunkt ihrer Karriere zu erwischen. Richard Prince hatte 1996 zugesagt, er arbeitete aber nicht mehr an seinen berühmten Cowboy-Motiven. Er war ratlos, hatte sich in Psychotherapie begeben. Resultat: Für die Edition Nr. 46 stellte er die Zeichnungen seiner Psychotherapie-Sitzungen zur Verfügung. Wenig später ging es mit Prince wieder bergauf, seine Joke Paintings erzielten Rekordpreise.

    Nicht immer leicht zu haben: Sigmar Polke.

    Der eigenartigste Künstler aber, mit dem ich zu tun hatte, war ­Sigmar Polke. Er lebte in ­einem Bungalow in Köln, Stadtteil Zollstock, Indus­triegebiet. Post nahm er nicht entgegen, Telefon hatte er auch nicht. Man musste in der Schreinerei ­nebenan anrufen, und die schauten nach, ob Polke zu Hause war. Manchmal kam er an den Apparat, schlug eine Verabredung vor, die er natürlich nicht einhielt. Ich weiß nicht, wie oft ich nach Köln-Zollstock gereist bin, nur um vor dem Bungalow mit geschlossenen Fens­terläden zu stehen. Es gibt legendäre Geschichten dazu, zum Beispiel, wie der Direktor des MoMa aus New York eingeflogen war, fest verabredet mit Polke, aber Polke war nicht da. Die Schreiner zuckten bloß mit den Schultern.

    Einmal nannte mir Polke den 21. September für unser nächstes Treffen. Meinen Geburtstag. Ich dachte mir: Wenn ich jetzt wieder umsonst komme, bringe ich ihn um. Überraschung: Polke war da, öffnete strahlend die Tür, und auf dem Tisch leuchtete eine große Geburtstagstorte. Ob er sich schon an die Arbeit gemacht habe für die Edition Nr. 46, wollte ich wissen. Auf die Grundidee hatten wir uns schon Monate zuvor geeinigt. »Welche Edition?«, antwortete Polke. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Da platzte mir der Kragen, ich brüllte auf ihn ein und forderte einen Vertrag, der unsere Zusammenarbeit verbindlich regelt. Polke nahm seelenruhig ein Blatt Papier und formulierte unseren Vertrag: »Vertragspartner«, schrieb er, »sind Sigmar Polke und ein Arschloch.« Dann weiter: »Sigmar Polke wird dem Arschloch seine Arbeit am 1. November 1995 liefern.« Unterschrift.

    Er hat sich pünktlich daran ge­halten. Der Vertrag hängt heute gerahmt über meinem Schreibtisch.
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    Moment 179: 2008

    Das Grauen von Amstetten: Die Welt erfährt, dass ein Österreicher seine Tochter im Keller seines Hauses versteckt gehalten und mit ihr sieben Kinder gezeugt hat. Der Redakteur Max Fellmann denkt sich eine ganz einfache Doppelseite dazu aus, die für überraschend viel Aufregung sorgt.

    Die Kinder in diesem Keller hatten nie eine einzige Sekunde normale Kindheit erlebt. Also schlug ich vor: Lasst uns das anschaulich machen, indem wir alle unsere Kindheitserinnerungen notieren. Die ganze Redaktion machte mit, eine riesige Liste entstand. Aber es gab Leser, die das Ergebnis für zynisch hielten. Dabei war es das Gegenteil, die reine Empathie. Amstetten hat uns gezeigt, wie wertvoll vieles ist, was wir für selbstverständlich halten.

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    Moment 180: 2011

    Der Künstler Todd Selby gestaltet eine ganze Ausgabe, in der es um die Wohnungen bekannter Berliner geht. Die Künstlerin Nina Pohl geniert sich dafür heute ein bisschen.

    Ich hatte einer sogenannten Homestory zugesagt. Da ich es nur ganz schwer aushalte, untätig zu sein und dann noch von anderen fotografiert zu werden, fing ich im Laufe des Shootings an, dem Fotografen Perspektiven und Kamerastandorte vorzuschlagen, die er begeistert und äußerst höflich annahm. In meinem Enthusiasmus nahm ich quasi die Regie in die Hand und verfiel dem Glauben, einem dankbaren Amateur geholfen zu haben. Am nächsten Tag stand ich im größten Buchladen Berlins vor einer noch größeren Buchpyramide, gefühlte zwanzig Meter hoch, auf den Buchrücken stand der Name »The Selby«. Da dämmerte es mir, und ich flüsterte, immer kleiner werdend: Das war Todd … !


    Fotos: Wolfgang Tillmans, André Rival; Andreas Herzau, Getty Images; Finn Campbell-Notman, Heinrich Völkel / Ostkreuz; Sarah Illenberger; Robert Voit, Corbis; Augustina von Nagel, Sigmar Polke / VG-Bildkunst, Bonn 2015; Todd Selby, Terry Richardson