»Ich spürte, hier passiert was, und ich bin dabei«

Wie man wurde, wer man ist, hat oft mit Musik zu tun – bei der Hamburger Chansonnière Anna Depenbusch insbesondere mit diesen sieben Songs von Michael Jackson, Björk und Lale Andersen.

    1) Dirty Diana – Michael Jackson
    Der 1. Juli 1988 hat mich musikalisch geprägt. Ich war 11 und ging auf mein erstes Konzert. Nicht Rolf Zuckowski in der Stadthalle, sondern Michael Jackson im Hamburger Volksparkstadion. Nicht mit meinen Eltern, sondern mit zwei Klassenkameraden, die Jahre später die Gitarristen meiner ersten Schülerband waren (ein Vater kam zur Sicherheit auch mit). Ich war großer Michael-Jackson-Fan und mit allen Songs von »ABC« bis »Thriller« vertraut. »Bad« sagte mich nichts – und das Spektakel hat mich tief beeindruckt und gleichzeitig verstört. Ein Song hieß »Dirty Diana«, und darauf war ich nicht gefasst. 50.000 Menschen im Platzregen, 50 silberne Schnallen an Michaels Lederhose, eine Gitarristin, wie aus einem Dracula-Film und Soundeffekte, die klangen wie der C64 meines Bruders. Ich erinnere mich, dass ich von diesem Lied noch lange Albträume hatte und es auf LP immer übersprungen habe. Doch irgendetwas in mir dachte damals auch: Wow! Ich spürte, hier passiert was, und ich bin dabei.

    2) Message in a bottle – The Police
    Als Teenager sprach mir der Song »Message in a bottle« aus der Seele. Das Einsame-Insel-Gefühl, die Sehnsucht nach jemandem. Ich habe den Text mit dem Wörterbuch übersetzt und war verliebt in Sting, besonders wegen der dritten Strophe. Ich wollte auch so eine Flaschenpost an seinem Strand sein. Zum 14. Geburtstag bekam ich dann die »Synchronicity«-Tour (1983 Live in Atlanta) als VHS-Kassette geschenkt. Ich war wie alle Mädchen in diesem Alter anfällig für sprunghafte Schmetterlinge im Bauch, und in meinem Tagebuch aus der Zeit finden sich seitdem Einträge zu Stewart Copeland, seinem Schlagzeuger. Mit Herzchen. Ich bin noch heute großer Police Fan und wenn mich jemand fragt, welche drei Lieder ich mit auf eine einsame Insel mitnehmen würde, wären zwei Police-Songs dabei: außer »Message in a bottle« auch »Every little thing she does«. (Und falls es wen interessiert, bei »King of Pain« spielt Copeland im Konzertfilm die erste Strophe am Xylophon im Stehen. Ich sag es bloß...)


    3) Natural Woman – Carole King

    Während der Schulzeit habe ich etwas Geld mit Auftritten auf Hochzeiten verdient. Ich hatte mir eine Notenmappe mit meinem Repertoire zusammengesammelt – Jazz-Standards und Soul-Klassiker, alle Lieder handschriftlich in meine Tonart umgeschrieben. »Natural Woman« war eines meiner Lieblingslieder und kam immer sehr gut an. Eines Tages hatte ich eine Anfrage eines jungen Paars, das dieses Lied in der Kirche während der Trauung hören wollte. Wie ein alter Vollprofi hab ich gefragt: »Welche Version? Carole King oder Areatha Franklin?«. Das Paar antwortete: »Celine Dion«. Ich kannte das nicht, habe mir die Version im Plattenladen angehört – und ich glaube, dann bin ich ohnmächtig geworden. Das kann doch kein menschliches Wesen singen!, hab ich gedacht. Das ist Hochleistungssport. Ich habe angefangen zu trainieren und bin dann eher schlecht als recht in die Höhe gekommen. Für mich ist dieses Lied nun eine Erkenntnis. Für den Charme der Schlichtheit.


    4) Venus as a boy – Björk

    Direkt nach dem Abi hatte ich meine erste eigene Wohnung und dort lief in der Küche fast ununterbrochen MTV. Viele Künstler habe ich so nebenbei beim Geschirrabwaschen kennengelernt und ihre Songs gehörten für mich untrennbar zu einem entsprechenden Videoclip. Songs wurden nur noch optisch beschrieben. Etwa das Lied, wo sich zwei weiße Roboter wie Menschen küssen. Oder das Lied, wo eine Frau langsam zum Eisbär wird. Eines Tages zündete Björk in meinem Küchen-Fernseher ein Feuerwerk. Das Lied war »Venus as a boy«. Ich war überwältigt von dem Song und der Frau, mein Leben wurde bunt. Die Küchenwände habe ich wie im Video blau gestrichen und rote Gardinen ans Fenster gehängt. Überall klebten kleine Bilder und kleine Dinge. Meine Klamotten bekamen Farben und Muster. Die Begegnung mit Björks Musik hat mich tief beeinflusst. Ich wollte Musikproduzentin werden, selber Beats programmieren, Songs schreiben. Ich bin 2001 nach Island gegangen und würde diesen Zeitabschnitt als Geburtsstunde meiner eigenen Musik bezeichnen.


    5) Adagio for Strings – Samuel Barber

    Angeblich ist das Adagio for Strings das traurigste Lied der Welt. Das Stück untermalt viele Beerdigungen, auch die von John F. Kennedy, Grace Kelly und Albert Einstein. Mir ist das Stück im Film »Die wunderbare Welt der Amelie« begegnet. Ich habe mich sofort in diese Streicher verliebt. Für mich verkörpert das Stück keine Traurigkeit, keinen Weltschmerz, sondern Mut und Unabhängigkeit. Im zweiten Drittel passiert nämlich etwas, das ich bemerkenswert mutig finde: Die Geigen schrauben sich immer weiter in die Höhe. Kein Kontrabass, kein Cello bleibt als Gegengewicht unten. Niemand. Alle hoch! Ein Streicher-Schneesturm auf 10.000 Metern. Eng beieinander, zitternd, völlig aus der Balance. Nach einer Generalpause stürzt das ganze Ensemble ab in eine warme, breite Tiefe. Diesen Augenblick erlebe ich körperlich. Ich fühle mich aufgepumpt und motiviert: Anna, vergiss alles was Du gelernt hast. Du kannst machen, was du willst!


    6) Liebeslied am Hafen – Lale Andersen
    Jeder kennt den Titel »Lili Marleen«. Die Geschichte des Lieds und die der Interpretin Lale Andersen bewegen mich sehr. Vor vielen Jahren habe ich das Lied mal bei einer Revue mit UFA-Songs gesungen, aber weil ich mich sehr unwohl damit fühlte, blieb es bei diesem einen Mal. Stattdessen habe ich dieses unbekannte Lied von Lale Andersen entdeckt, das ich sogar fest in mein Konzertprogramm als letzte Zugabe aufgenommen habe: Der Wortwitz und die Bilder kamen mir vertraut vor. Ich dachte, es klingt wie eins meiner Lieder, »Tim liebt Tina« oder die »Haifischbarpolka«, nur durch ein Grammophon und mit 75 Jahre altem Staub drauf. Die Klavierbegleitung fasziniert mich. Ein freies, erzählerisches Tempo in den Strophen, ein rhythmisches Stride-Piano im Refrain. In der Popmusik kommen Tempowechsel praktisch nie vor. Alles ist auf dem Beat. Ich finde das schade und versuche mich in meiner Musik etwas freier zu bewegen. Es kommt mir lebendiger vor.


    7) Yumeji's Theme – Shigeru Umebayashi
    Auf Tournee höre ich oft Musik, bevor ich auf die Bühne gehe, um mich in die richtige Stimmung zu bringen – meistens »Yumeji's Theme«. Es ist wie eine Meditation für mich. Ich stehe still da in meiner Garderobe und höre zweieinhalb Minuten dieses Stück. Danach hat mein Körper mehr Spannung. Ich bin drei Zentimeter größer, stehe aufrechter, sehe klarer. Ich nenne es das »Ballett-Gefühl« – ich hab zwar nie wirklich Ballett gemacht, aber ich glaube, so fühlt sich eine Ballerina in totaler Bewegungslosigkeit. Das Stück stammt aus dem Film »In the mood for love«. Eigentlich passiert darin nicht viel: Eine Frau holt Suppe. Viele Male. Sie trägt dabei jedesmal ein anderes Qipaos-Kleid. Im ganzen Film fast 50 verschiedene Kleider. Sie hat eine Eleganz und Grazie, die mich umhaut. Möge ein bisschen davon auf mich abfärben, wenn ich diese Melodie hinter der Bühne vor meinem Konzert höre...

    Foto: Sandra Ludewig