Es gibt keinen umgekehrten Rassismus

Auch weiße Menschen behaupten gar nicht so selten, sie seien Opfer von Rassismus. Unsere Kolumnistin erklärt, warum dieser Ansicht ein Denkfehler zugrunde liegt und was wohl wirklich dahinter steckt.

Ciani-Sophia Hoeder, 30, kommt aus Berlin und ist Gründerin von RosaMag, dem ersten Online-Lifestylemagazin für Schwarze Frauen im deutschsprachigen Raum.

Foto: Megan Vada Hoeder

Meine beste Freundin und ich haben da so eine Sache. Sie ist weiß und ich bin Schwarz, doch seit einer Partynacht, als wir beide 18 waren, nenne ich sie Brownie und sie nennt mich Käsekuchen. Bis heute sind das unsere gegenseitigen Spitznamen, nach Corona wollen wir sie uns nun sogar tätowieren lassen. In unserer Clique kommen diese Spitznamen allerdings nicht sonderlich gut an. Vor allem ich werde fast schon empört angeschaut: Da prangere ich in meinen Texten immer wieder Rassismus im Alltag an – und bezeichne meine weiße Freundin mit einem Spitznamen, der ironisch auf ihre Hautfarbe anspielt. Das sei Rassismus gegen Weiße, lautet der Anklagepunkt. Da war er wieder, der Vorwurf des umgekehrten, oder reversiven, Rassismus. Diese Karte wird immer dann gezückt, sobald eine weiße Person auch nur den Hauch einer Ungerechtigkeit gegenüber weißen Menschen wittert. Dahinter steckt das Bedürfnis zu zeigen, dass es Schwarzen Menschen gar nicht so schlecht geht. Auch Weiße leiden schließlich an diesem oder jenem Problem, ist doch irgendwie alles relativ, alles Auslegungssache.

Um direkt auf den Punkt zu kommen: »Umgekehrten Rassismus« gibt es nicht. Natürlich kommt es vor, dass Weiße diskriminiert oder benachteiligt werden. Und selbstverständlich gibt es Schwarze Menschen oder People of Color, die weiße Menschen nicht mögen, die Vorurteile haben, pauschalisieren, stereotypisieren. All das ist nicht gut. Aber all das ist eben kein Rassismus. Wer so etwas behauptet, weiß offenbar nicht, was Rassismus ist, nämlich eine seit Jahrhunderten bestehende Ideologie, nach der Menschen mit bestimmten äußerlichen Merkmalen weniger wert sind als andere. Rassismus hat eine individuelle Ausprägung, die sich im zwischenmenschlichen Kontakt, im sozialen Umgang zeigt; daneben ist Rassismus aber auch auf institutioneller Ebene verankert.

Meine Vermutung: Hinter dem Gerede vom »umgekehrten Rassismus« steckt das Bedürfnis, sich nicht mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen zu wollen

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In unserer weißen Mehrheitsgesellschaft ist Rassismus tief mit unserem Wirtschaftssystem verwoben, mit staatlichen Strukturen, mit der Kulturlandschaft; mit unserer Geschichte, mit Kolonialisierung und Nationalsozialismus natürlich sowieso. Die Folgen: Schwarze Menschen werden bei der Wohnungssuche oder am Arbeitsplatz bis heute diskriminiert, erleben Polizeibrutalität und Armut. Klar, auch weiße Menschen können solche Dinge erleben. Nur eben nicht in dem Ausmaß, und nicht als Folge einer systemimmanenten Logik.

Meine Vermutung: Hinter dem Gerede vom »umgekehrten Rassismus« steckt das Bedürfnis, sich nicht mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen zu wollen. Das erlebte ich vor einem halben Jahr anlässlich eines Workshops in Köln. Das Thema waren Afrohaare, es sollte um Pflegetipps gehen, aber auch über Ausgrenzungserfahrungen gesprochen werden, die man als Schwarze Person aufgrund der eigenen Haarstruktur erlebt.

Die Veranstaltung war als Safe Space konzipiert, also als Raum, in dem sich Schwarze möglichst frei von Diskriminerung und Rassismus äußern können sollten und zu dem Weiße deshalb keinen Zutritt hatten. Obwohl die Veranstaltung so angekündigt worden war, kam auch ein weißes Kölner Ehepaar – und wurde nicht hineingelassen. Natürlich störte es den Mann, in einer Welt, wo er nahezu überall Zutritt hat, plötzlich vor einer verschlossenen Tür zu stehen. Doch anstatt darüber nachzudenken, warum solche Safe Spaces immer noch nötig sind, fiel ihm nichts besseres ein, als die Veranstalter*innen des Rassismus zu bezichtigen und sich als Opfer darzustellen. Mit seiner Klage wendete er sich auch an mich (wir hatten zuvor in einer anderen Sache Kontakt gehabt), obwohl ich mit dem Workshop gar nichts zu tungehabt hatte; wohl in der Hoffnung, dass ich ihm beipflichten würde. Als ich das nicht tat, ging er soweit, etliche meiner Auftraggeber*innen und Kund*innen zu kontaktieren und mich bei ihnen als Rassistin anzuschwärzen. Ich fand es erschreckend, aber auch bezeichnend, wie viel Zeit es ihm Wert war zu beweisen, dass ausgerechnet er, ein alter weißer Mann, von Rassismus betroffen sei. Und wie unfähig er war, seinen Blick über den Tellerrand seiner Privilegien hinweg auf die zu richten, die tatsächlich Tag für Tag von Diskriminierung betroffen sind.

Also nochmal fürs Protokoll: Eine Veranstaltung nur für Schwarze Menschen zu entwickeln, ist kein Rassismus, sondern Schutz. Ein Magazin nur für Schwarze Menschen zu konzipieren? Auch kein Rassismus, sondern das Bestreben etwas nachzuholen, das es für weiße Menschen seit Jahrhunderte gibt. Eine Quote an Universitäten oder bei Unternehmen, damit mehr Schwarze Menschen überhaupt einen Studienplatz oder Job erhalten? Schon wieder kein Rassismus, sondern der Versuch, ein klitzekleinwenig gegen den strukturellen Rassismus in unserer Arbeitswelt vorzugehen.

In Wahrheit ist es so: Sobald eine Veranstaltung oder eine Situation Weißsein nicht ins Zentrum stellt, besteht die Gefahr, dass der Vorwurf des »umgekehrten Rassismus« kommt. Denn dass sich mal nicht alles um sie dreht, sind weiße Menschen nicht gewohnt.

Glossar:

weiß: Wird kursiv geschrieben, denn weiß meint nicht lediglich den Hautton einer Person, sondern eine gesellschaftlich dominante Machtposition, die mit Privilegien verbunden ist.

Schwarz
: Wird groß geschrieben, da es, ebenso wie weiß, nicht den Hautton einer Person meint, sondern eine Selbstbezeichnung ist, die die politische und gesellschaftliche Positionierung einer Person beschreibt. Das Schwarze Subjekt ist gesellschafts-politisch und strukturell immer untergeordnet. Schwarz umfasst alle Personen(-gruppen) afrikanischer Herkunft.

People of Color
: Ist eine Selbstbezeichnung für unterschiedlichste Personen(-gruppen), die sich als nicht-weiß definieren. Diese können sehr heterogen sein und noch mal andere Selbstbezeichnungen verwenden, zum Beispiel:

Asian: Meint zumeist Personen mit ostasiatischem Erbe.
Desi: Ist eine Selbstbezeichnung von Personen mit südasiatischem Erbe.
Brown: Meint zumeist Personen mit südostasiatischem Erbe.
Latinx: Ist ein Sammelbegriff für Personen mit süd-/mittelamerikanischem Hintergrund. Die Endung x versucht, die Binarität (männlich/weiblich) der spanischen Sprache aufzubrechen.