Freitagabend um 20.15 Uhr, wenn die Familie vor dem Fernseher saß, stellte sich alle vier Wochen leichtes Unbehagen ein. Nicht Derrick wurde gezeigt oder Der Alte mit Siegfried Lowitz, sondern eine neue Folge von Aktenzeichen XY. Die gemächlichen Münchner Krimiserien folgten dem immer gleichen Muster, dessen Gemachtsein noch einem Kind erkenntlich war. In Aktenzeichen XY dagegen ging es um echte, offen gebliebene Fälle, und die Anspannung vor dem Fernseher hat die Gesichter und Stimmen bis heute tief im Gedächtnis verankert:
Eduard Zimmermann, der das Geschehen ernst und gefasst vortrug wie ein Beamter, der sein Gegenüber vom Tod eines Angehörigen informieren muss; oder die zugeschalteten Aufnahmestudios vom österreichischen und Schweizer Fernsehen, geleitet von Peter Nidetzky und Konrad Toenz – Nebenfiguren, deren Namen noch so präsent sind wie die aus Kinderbüchern, wie Frau Petrell oder Fräulein Rottenmeier.
Die Arbeit der Aktenzeichen XY-Redaktion ist nun wieder ins Bewusstsein gerückt, nachdem die Sendung über das Holzklotz-Attentat auf der Autobahn bei Oldenburg berichtet hat. Hunderte von Anrufern meldeten sich noch am selben Abend, und zum ersten Mal konnten die Ermittler einem Verdacht gegenüber namentlich bekannten Personen nachgehen. Seitdem Eduard Zimmermann die Moderation der Sendung abgegeben hat, scheint Aktenzeichen XY seinen Status als Fernsehinstitution eingebüßt zu haben. Der aktuelle Fall jedoch, das Phantombild der mutmaßlichen Tätergruppe, auf dem nur die durch Zeugenaussagen bekannten Einzelheiten klar hervortreten, brachte nicht nur einen neuen Zuschauerrekord, sondern mit einem Mal auch die Erinnerung an die Wirkungskraft dieser Sendung zurück.
Aktenzeichen XY lieferte in seiner irritierenden Mischung aus Spielszenen und kriminalistischer Fahndung frühe »Dokudramen«, lange vor der Entstehung dieses Genres. Die Büros der Polizeibeamten, die in diesen Einspielfilmen ermittelten, sahen genauso aus wie in den Fernsehserien am gleichen Sendeplatz, doch man wusste natürlich, dass das Mädchen, das zu Beginn noch im behüteten Familienkreis gezeigt wurde, kurz darauf tatsächlich ermordet werden würde.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: In der 200 Jahre alten Wissenschaft vom Verdacht hat die Sendung eine neue Fahndungstechnik eingeführt)
Und diese unheimliche Vorstellung wurde immer nach dem Ende der Filme Gewissheit, wenn Eduard Zimmermann die vorhandenen Indizien des Falles vorstellte, etwa eine am Tatort liegen gebliebene Umhängetasche oder ein Schmuckstück. Es war schon während der Filmbeiträge klar gewesen, welche Dinge auch in Wirklichkeit existieren und im Studio noch einmal gezeigt werden würden – auf diesen Gegenständen hatte die Kamera in den Filmen stets einen Augenblick zu lange gehaftet.
Die Debatten über die zweifelhaften Konsequenzen der Fernsehfahndung sind heute vollkommen verschwunden. Im Zeitalter des Internets und der schrittweisen Beschränkung der Persönlichkeitsrechte ruft die fernsehgestützte Suche nach Verbrechern keine Empörung mehr hervor – auch wenn die latente Gefahr des Formats gerade vor ein paar Wochen wieder deutlich wurde, als nach einer Verwechslung ein deutscher Rentner kurzzeitig für einen Schwerverbrecher gehalten wurde. Wie selbstverständlich und unumstritten Aktenzeichen XY mittlerweile auch sein mag: In der 200 Jahre alten Wissenschaft vom Verdacht hat die Sendung eine neue Fahndungstechnik eingeführt, die zumindest Fragen aufwirft: die Behauptung, ein noch ungeklärter Kriminalfall ließe sich ohne Weiteres filmisch nacherzählen.
Das Geflecht von Spuren und Zeugenaussagen – so löchrig, dass als letztes Hilfsmittel das Fernsehen hinzugezogen wird – präsentiert sich in den Filmfällen als logische Erzählung, spannend aufgebaut wie ein Krimi. Eine Reihe von Verbrechen mag durch die Sendung aufgeklärt worden sein. Den Eindruck von der diffusen Erscheinung eines polizeilichen »Falles«, von der Fülle an Details, die sich nicht zu einem einheitlichen Bild fügen, hat Aktenzeichen XY im Bewusstsein der Zuschauer für alle Zeiten verwischt.