Ypsilanti

Eine Politikerin will nach oben, dafür musste sie ihr Wort brechen. Na und?

Sie ist pragmatisch, sie ist hartnäckig, sie ist machtbewusst, sie ist ideologisch flexibel, sie weiß, dass eine Partei alle paar Jahre einen Vatermord braucht, sonst sitzt so eine Partei fest, mit all den Jasagern und Mitläufern aus dem alten Regime – bei der CDU war das damals nach Helmut Kohl so, bei der SPD ist es heute nach Gerhard Schröder so.

Sie weiß, dass in Krisenzeiten Mehrheiten links gewonnen werden, sie sagt, was in zwei bis drei Jahren alle sagen werden in dieser Partei, in der die schlechte Laune eines Peter Struck schon als konsequente Haltung gilt und man am besten so profillos wie Sigmar Gabriel nach oben kommt und Sturheit nur den Männern zugestanden wird. Sie wird das Unvermeidliche tun und dafür erst bekämpft und später, wenn es geklappt hat, gefeiert werden. Sie kann Mehrheiten schaffen, wo keine sind. Sie ist im Moment womöglich die einzige Chance, die diese Partei hat. Andrea Ypsilanti ist die Angela Merkel der SPD.

Merkel wurde immer belächelt und unterschätzt und hat dann Kohl mit einem einzigen Zeitungstext erledigt, hat ihre eigenen Jasager und Mitläufer installiert, die den CDU-Kursschwenk nach links mitmachten, hat sich schließlich eine Mehrheit beschafft und ihre Inhalte dieser Mehrheitssituation angepasst; Ypsilanti wurde immer eine gewisse Rothaarigkeit unterstellt, jetzt lächelt sie sich, bei Beckmann und auch sonst, wie ein Profi durch die immergleichen Fragen nach Wortbruch und Machthunger, Kurt Beck wird vor lauter Ärger eine Flasche Riesling gegen die Wand werfen und Gerhard Schröder wird an seiner Zigarre saugen und sagen, er habe es schon immer gewusst.

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Im heutigen Wellness-Jargon würde man das, was Ypsilanti mit der SPD macht, eine Entgiftung nennen, was oft durchaus mit Übelkeit und Erbrechen verbunden ist. Und normalerweise geht man für so etwas in die Buchinger Klinik am Bodensee und nicht in den hessischen Landtag in Wiesbaden. Ypsilanti will sich hier mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen – ein Fanal, finden die einen, ganz normal, sagen die anderen. Therapie, könnte man auch sagen.

Das Symptom in der SPD ist ein schwindelerregender Abstieg in die gefühlte Bedeutungslosigkeit weit unterhalb von 30 Prozent. Das Gift, so sieht Ypsilanti das, ist die Agenda 2010; das Gift ist das Erbe von Gerhard Schröder. Man kann das politisch falsch finden. Tatsächlich aber, und darauf kommt es in diesem Fall an, sind bei all dem heuchlerischen Hickhack um Ypsilanti politische Inhalte von Anfang an Nebensache gewesen; tatsächlich ging es immer um etwas anderes: Es ging um die Frage, ob Politiker meinen, was sie sagen. Ob wir das glauben. Ob sie das glauben. Ob wir uns alle etwas vormachen. Und ob das sehr schlimm ist.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Politiker werden nicht an Lügendetektoren angeschlossen, und das ist gut so)

Tatsächlich ging es immer um den »Wortbruch«, es ging um die politische Kultur in diesem Land, um die Glaubwürdigkeit einer ganzen Kaste, um das Fundament unserer Demokratie – und wie immer, wenn die Worte so groß werden, dass man sich leicht den Nacken verrenkt, sollte man mal genauer hinschauen: Wer sagt hier denn was und warum und was machen sie sonst so den lieben langen Tag über? Mit anderen Worten: Wer dauernd vom Wortbruch redet, hat etwas anderes im Sinn – denn so naiv wie im politischen Proseminar sind die Herren ja wohl nicht. Dass sie von uns wirklich erwarten zu glauben, sie würden alles so meinen, wie sie es sagten.

War es von Peer Steinbrück Wortbruch, als er erklärte, mit dem deutschen Bankensystem sei alles in Ordnung – noch kurz, bevor er mit kühnen Sätzen sein Hilfsprogramm verkündete? Ist es Wortbruch, wenn Angela Merkel die Bildungsrepublik ausruft – obwohl sie im Grunde schon vorher weiß, dass das alles wieder im Föderalismus zerrieben werden wird?

Anders gesagt: Politiker werden nicht an Lügendetektoren angeschlossen, und das ist gut so. Andrea Ypsilanti ist machtbewusst, und das ist gut so. Macht hat in Deutschland einen schlechten Ruf, was schade ist, denn nur wer die Macht will, kann sie auch nutzen.

Foto: ap