Am Berliner Amtsgericht wurde neulich der Fall des Kreuzberger Obsthändlers Ismet G. verhandelt, der einem Polizisten bei einer Routinekontrolle die Zunge herausgestreckt hatte. Strafmaß: 300 Euro. In der Urteilsverkündung wies der Richter in aller Strenge darauf hin, dass die herausgestreckte Zunge in Deutschland kein Bagatelldelikt sei und im Katalog der Beleidigungen nur geringfügig unterhalb des Vogelzeigens und der verbalen Entgleisung stehe.
Vielleicht hätte das Gericht eine Anzeigenkampagne zur Kenntnis nehmen sollen, die ihrer enormen Beliebtheit wegen gerade in die zweite Runde geht. »Raus mit der Sprache. Rein ins Leben« heißt sie und wird von der »Deutschlandstiftung Integration« präsentiert, einer vom Verband deutscher Zeitschriftenverleger gegründeten Organisation. Ein Dutzend mehr oder weniger prominenter Deutscher »mit Migrationshintergrund«, darunter Sido, Jérôme Boateng, Arthur Abraham und Magdalena Brzeska, streckt auf Plakaten und Zeitungsannoncen die schwarz-rot-golden bemalte Zunge heraus und wirbt für den Besuch von Sprachenschulen. Ehrenamtlich. Ohne Honorar, aber auch ohne Bußgeld.
Ästhetisch und semiotisch ist diese Kampagne ein einziges Rätsel. Denn die herausgestreckte Zunge ist kein Zeichen für das Erlernen einer neuen Sprache. Sie ist – nach Einstein, den Rolling Stones und Pipi Langstrumpf – eine Ikone für Unangepasstheit und Dissidenz. Und auch die zweite Assoziation zu dieser Geste, der Arztbesuch bei Husten und Grippesymptomen, macht die Bildsprache nicht verständlicher. »Deutschland hängt mir zum Hals raus« ist der Satz, der einem zu den Plakaten noch am ehesten einfällt.
Warum also dieses Konzept, warum die positive Resonanz der Fachleute, die »Raus mit der Sprache« in die engere Wahl zur »Anzeigenkampagne des Jahres« berufen hat? Es muss an der narkotisierenden Wirkung der Farben Schwarz-Rot-Gold auf die neue deutsche Öffentlichkeit liegen. Die erste Staffel der Kampagne fand in den Wochen der Lena- und WM-Euphorie statt, die zweite beginnt nun im Zeichen der trostlosen Sarrazin-Debatte. Nachdem alle Balkone, alle Rückspiegel und alle Gesichter beflaggt worden sind, bleibt nur noch ein gewöhnlich verborgenes Körperteil übrig, um das schwarz-rot-goldene Bekenntnis weiterzutragen. Wer weiß, vielleicht werden in einer dritten Auflage die Mittelfinger von Neuköllner Jugendlichen bemalt.
Fotos: DDB/ Murat Aslan