»Wenn es so kalt ist, dann helfen auch drei Schlafsäcke nicht mehr«

Olaf Schüßler betreut Wohnungslose in Berlin. Er weiß, wie sehr ihnen die aktuelle Kälte zusetzt. Umso mehr freute er sich, als er Anfang der Woche einem Menschen helfen konnte, zu dem er eine ganz besondere Beziehung hat.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Herr Schüßler, Sie arbeiten seit 15 Jahren als Sozialarbeiter, davon fünf Jahre in der Wohnungslosenhilfe. Gibt es einen Menschen, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Olaf Schüßler: In diesen Tagen denke ich vor allem an einen Mann, den wir Anfang der Woche nach langem Hin und Her endlich in einer Notunterkunft für Wohnungslose unterbringen konnten. Dieser Mensch ist eine ganz wichtige Person für einen ganz bestimmten Ort: den Bahnhof Berlin-Lichtenberg.

Warum?
Die Sicherheits- und Polizeikräfte vor Ort sagen, dass er den sozialen Raum Bahnhof auf eine positive Weise zusammengehalten hat. Er ist ein sehr angenehmer, friedfertiger Mensch, der sich gerne für andere einsetzt. Er hat eine laute Stimme, mit der er oft dazwischen geht, wenn es Streitereien gibt. Wie viele in dieser Umgebung hat er seine ganz eigene Leidensgeschichte mit biografischen Brüchen. Er ist schwer alkoholabhängig, war viermal verheiratet, alle seine Ehen sind gescheitert. Er lebt schon seit 15 Jahren auf der Straße. Oft flucht er über die Polizei und die S-Bahn-Sicherheit und erzählt Geschichten aus seinem Leben. Wir Sozialarbeiter hören gerne zu und lachen mit. Gestern habe ich ihm erzählt, dass die Bundespolizei ihn eigentlich ganz gut leiden kann. Da war er völlig überrascht und hat diese Geschichte gleich seinen Kollegen vom Bahnhof erzählt. Als wir der Bundespolizei mitgeteilt haben, dass wir ihn in einer Notunterkunft untergebracht haben, waren einige Beamte enttäuscht, weil sie jetzt auf einen wichtigen Streitschlichter verzichten müssen.

Warum mussten Sie den Mann in eine Notunterkunft unterbringen?
Naja, er ist so beliebt, dass er eigentlich gut versorgt wird. Die Menschen mögen ihn, weil er so in sich ruht. Das hätten Sie mal sehen müssen: Wenn er irgendwo am Bahnhof saß, kamen alle zehn Minuten verschiedene Menschen vorbei, die ihm warmes Essen oder eine Dose Bier in die Hand drückten. Den ganzen Tag redete er ohne Pause. Bis seine Stimme vom Gequatsche und von den Zigaretten ganz heiser klang. Trotz alledem: Er wird in ein paar Jahren 70 und hat mehrere Krankheiten. Eine Alkoholabhängigkeit kriegt man am Bahnhof nur schwer in den Griff. Es stellt sich mittlerweile die Frage, wie lang er noch auf der Straße leben kann. Als wir ihn abholten, hatte er drei Tage im Bahnhofsbereich geschlafen.

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Olaf Schüßler

Foto: privat

In Berlin waren es jetzt bis zu minus 15 Grad. Was geht da in Ihnen vor? 
Wenn es so kalt ist wie jetzt, dann helfen auch drei Schlafsäcke nicht mehr. Ich wusste deshalb, dass besonders die Kollegen in der Kältehilfe belastet sind. Am Sonntag beschlossen wir in unserem Team der Mobilen Einzelfallhilfe, dass wir unsere Sozialarbeit am Tag zurückfahren und ähnlich wie die Kollegen vom Kältebus ausschließlich von 18 Uhr bis 4 Uhr Menschen in die Notunterkünfte begleiten.

Laut der BAG Wohnungslosenhilfe sind in diesem Winter bereits 17 wohnungslose Menschen erfroren, davon drei in Berlin.
Einen der drei Toten hat das Team aus Psychologen, Sozialarbeitern und Diakonen am Bahnhof Zoo gut gekannt. Er ist nachts verstorben. Nach Aussage der beteiligten Einsatzkräfte wahrscheinlich durch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Wir werden ihm nächste Woche auf seiner Beerdigung die letzte Ehre erweisen.  

»Ich sehe eine immer größere Solidarität der Berlinerinnen und Berliner mit Obdachlosen«

2020 gab es eine Obdachlosenzählung in Berlin. Demnach leben rund 2000 Menschen auf der Straße. Man schätzt, dass es weit mehr sind. Wie kriegt man die alle versorgt?
Es sind auf jeden Fall mehr, das sagt auch mein Gefühl. Aber wir haben in Berlin ein System, das gut funktioniert. Es gibt viele Angebote. Die allermeisten Obdachlosen, denen ich in meiner Arbeit begegnet bin, kennen die Einrichtungen, die ihnen helfen können. Viele nehmen diese Angebote auch wahr, aber eben nicht alle. Außerdem sehe ich eine immer größere Solidarität der Berlinerinnen und Berliner mit Obdachlosen.

Woher kommt diese Solidarität?
Das ist jetzt meine persönliche Beobachtung als Streetworker, keine soziale Erhebung oder so. Ich merke, dass viele Menschen in Berlin spätestens ab dem Jahr 2015 angefangen haben, solidarischer zu denken. Weil so viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, rückten Menschen vom Rand der Gesellschaft auch stärker in die Mitte der Aufmerksamkeit. Vielen wurde klar: Es gibt hier in dieser Stadt viele Menschen, die kein Zuhause oder eine gesicherte, warme Mahlzeit am Tag haben. Das ist hängen geblieben. Deshalb helfen die Menschen und geben gerne Essen, Geld und Sachspenden.

Wie beeinflusst die Coronapandemie das Leben von Menschen ohne Wohnung?
Wir waren überrascht, wie zeitnah und flächendeckend wohnungslose Menschen über die Pandemie informiert waren. Wir gehen seit März unsere Runden durch Berlin und erzählen denen, die es noch nicht mitbekommen haben, von der Pandemie: Was die Symptome sind, wie sie sich schützen können und wo sie sich melden können, wenn sie krank werden. Viele verschiedene Organisationen verteilen Masken. Jede Person ohne Wohnung, mit der ich in der zweiten Coronawelle gearbeitet habe, trug eine Maske. Ab und zu muss man sie daran erinnern. Aber das ist ja überall in der Gesellschaft so.

Was ist jenseits von Kältewellen und der aktuellen Pandemie die größte Herausforderung in Ihrem Job?
Dass man nicht nur Herz zeigen, sondern auch konsequent sein muss. Auch wenn man eine Person noch so mag, wie ich diesen Mann vom Bahnhof Lichtenberg, muss man sachlich ihre Persönlichkeit, ihre Ressourcen und Wünsche einschätzen und diese mit den Vorgaben von Gesellschaft, Institutionen und Einzelpersonen in Einklang bringen. Das macht gute Sozialarbeit aus. Der Mann am Bahnhof Lichtenberg hätte bei all seinen Geschichten, seinen Bieren und Freunden schlicht und einfach vergessen, sich um einen warmen Schlafplatz zu bemühen. Deshalb haben wir uns darum gekümmert.

Akuthilfe für obdachlose Menschen bei Kälte stellen die sogenannten Kältebusse zur Verfügung. Hier finden Sie Adressen und Telefonummern, die Sie kontaktieren können, wenn Sie einen von der Kälte bedrohten Obdachlosen sehen: 

München: https://kaeltebus-muenchen.de/

Hamburg: https://www.diakonie-hamburg.de/de/visitenkarte/diakonie-zentrum-fuer-wohnungslose/mitternachtsbus/

Berlin: https://www.berliner-stadtmission.de/kaeltehilfe/kaeltebus/kaeltebus/die-telefonnummer

Köln: https://fdks-obdachlosenhilfe.de/

Frankfurt: https://frankfurt.de/themen/soziales-und-gesellschaft/notlagen-und-hilfen/in-notlagen/kaeltebus