Bahn-Charme statt Flugscham

In der ersten Folge unserer Bahnfahrer-Kolumne wird erörtert, ob Zugfahren trotz aller Pannen die schönste Art des Reisens ist und was den ICE von anderen Hochgeschwindigkeitszügen unterscheidet.

Illustration: Nishant Choksi

Als die untergehende Sonne zwischen Braunschweig und Hildesheim das Innere des Großraumwagens orange färbt, wird mir auf einmal klar, wie schön reisen mit der Deutschen Bahn ist. Der ICE 877 hat keine Verspätung. In 4:40 Stunden werde ich von Berlin nach Frankfurt reisen – der Flixbus braucht doppelt so lange und mir wäre darin kotzübel. Auch mit dem Auto wäre die Tour kaum besser als mit dem Bus. Stau, Stress, Drängelei und vor allem: Stunden verlorener Lebenszeit. Im ICE dagegen kann ich lesen, dösen, bei Tempo 250 zur Toilette oder ins Bordrestaurant gehen. Wenn ich mich denn losreißen könnte – vom Anblick der goldenen Felder Niedersachsens.

Eine junge Frau setzt sich neben mich. Wir unterhalten uns kurz, sie ist Lehrerin für evangelische Religion und kommt aus Österreich. Am Wochenende pendelt sie oft zwischen ihrem Wohnort Wien und ihrer Heimat Linz hin und her. »Es fährt alle halbe Stunde ein Zug, abwechselnd ein deutscher und ein österreichischer«, sagt sie. »Ich bin aber immer froh, wenn ich einen ICE erwische. Das sind einfach die bequemsten Garnituren.« Damit meint sie die Waggons – und mir fällt ein, dass ich genau diesen Satz schon einmal von einem österreichischen Kollegen gehört habe. Die Lehrerin sagt jedenfalls, dass sie mit dem Railjet – das ist der österreichische Hochgeschwindigkeitszug – nicht gerne fahre. Warum? Sie kann es nicht erklären. Als ich später darüber nachdenke, fällt mir auf: Der Railjet ist ein toller Zug, aber auf dem Boden liegt ein abwaschbarer Kunststoffbelag. Genauso ist es in Schweizer Intercitys. Die Böden dort sind jeweils kalt und laden nicht dazu ein, die Schuhe auszuziehen. Sie schlucken zudem keine Geräusche. Dagegen liegt im ICE Teppich – gedämpfte Schritte, gemütliches Ambiente, wahrscheinlich wirkt er deshalb wie ein rollendes Wohnzimmer. Dazu die Sitze, die gerade weich genug sind, um bequem zu sein, aber nicht so weich, dass man darin einsinkt. Ja, die Österreicher mussten mir die Augen öffnen: Der ICE ist der bequemste aller europäischen Hochgeschwindigkeitszüge!

Säße ich auf dieser Strecke im Flugzeug – ich würde mich schämen. Stattdessen sause ich mit 250 durchs Land, angetrieben von Ökostrom und mit vollkommen reinem Gewissen

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Weiterer Pluspunkt fürs Bahnfahren - die Sicherheit. Im Auto ist es 53 Mal wahrscheinlicher durch einen Unfall zu sterben als im Zug. Auch die Busfahrt ist gefährlicher als die Bahn. Gut, das Flugzeug ist ähnlich sicher, aber das kommt für mich aus anderen Gründen nicht in Frage. Ganz abgesehen davon, dass es furchtbar umständlich ist, erst im Bus nach Tegel zu zuckeln, dann beim Check-In an der Sicherheitskontrolle und am Gate zu warten, um dann in Frankfurt wieder mit der S-Bahn in die Stadt fahren zu müssen - ein Flug wäre klimaschädlich. Das Wort Flugscham, in Schweden erfunden, für Menschen, die wegen des hohen CO2-Ausstoßes nicht mehr gerne zugeben, dass sie fliegen, ist mittlerweile in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen. Und ja, säße ich auf dieser Strecke im Flugzeug – ich würde mich schämen. Stattdessen sause ich mit 250 durchs Land, angetrieben von Ökostrom und mit vollkommen reinem Gewissen.

Gebucht habe ich mein Ticket eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges, als ich schon auf dem Weg zum Bahnhof war – mit dem Handy. Dass ich so spontan fahren kann – zum normalen Fahrpreis – ist genial. Tatsächlich bin ich so gern mit der Bahn unterwegs, dass ich mit 44 Jahren noch nie den Impuls hatte, mir ein Auto kaufen zu wollen. Ich reise mit der der Bahn, ob mit Skiern, Kajak oder Baby im Gepäck. Oft freue ich mich mehr auf die Fahrt, als aufs Ziel. Ich habe hier Stunden für mich. Heute bin ich beruflich unterwegs, auf dem Rückweg von einem Termin. Ich kann prima arbeiten im Zug, es ist  geschenkte Zeit.

Gerade schaue ich allerdings vor allem aus dem Fenster. Draußen sehe ich Wälder vorbei ziehen, eine kleine Straße schlängelt sich durch eine saftige Wiese an einem Bauernhof vorbei, dann mäandert unter der Brücke, über die wir gleiten, ein Fluss durch fettes Grün. Wie in einer Modelleisenbahnlandschaft. Ich bin kurz davor, zum Bahnromantiker zu werden. Aber leider, leider, leider ist der Mensch nicht dafür gemacht, einfach im Moment zufrieden zu sein - und so fallen mir plötzlich die vielen Dinge ein, die bei der Bahn nicht gut laufen. Verspätungen, Zug-Ausfälle, Kommunikations-Katastrophen. Geschlossene Bistros, Gleiswechsel, geänderte Wagenreihung. In den kommenden Folgen dieser Kolumne wird es um all die Ärgernisse gehen, denen man als Bahnreisender ausgesetzt ist, und auch um manchen kleinen Trick, mit dem sich der Bahnalltag erleichtern lässt. Also: Danke, Deutsche Bahn, für die wunderbare Fahrt heute – aber um es mit den Worten einer ehemals sehr mächtigen Politikerin zu sagen: Ab nächste Woche ist Schluss damit. Dann gibt es auf die Fresse.