Harmoniesucht

Ein Interview über die Messbarkeit von Schönheit, den Goldenen Schnitt in der Natur und unsere Sucht nach Proportionen.

SZ-Magazin: Herr Professor Erlhoff, kann man Schönheit messen?
Michael Erlhoff:
Bestimmte Vorstellungen von Schönheit sind bei allen Menschen sehr ähnlich, man kann diese untersuchen und genau ermitteln. Denn wir sind auf bestimmte Proportionen und deren Wiederholung angewiesen, um uns orientieren zu können. Ein gutes Beispiel dafür: Wir wissen, wie eine Treppe aussieht. Wir kennen ihre Systematik und gehen davon aus, dass jede Stufe gleich breit ist. Wir glauben, die Systematik nach vier, fünf Stufen verstanden zu haben, vertrauen ihr und sehen nicht mehr hin. Ist eine Stufe etwas kürzer, fallen wir auf die Nase.

Brauchen wir die Wiederholung, um besser zu leben?
Offenkundig. Unser Hirn liebt Serienproduktionen. Das gilt auch für Schönheit. Diese Wiederholungen sind schon in der Natur verankert. Eine Rosenblüte hat zum Beispiel etwas wunderbar Serielles. Ebenso wie die Anordnung der Kerne einer Sonnenblume, das Wachstumsmuster eines Tannenzapfens oder der Verlauf eines Schneckenhauses. Auch in der Architektur ist meist alles gleichmäßig angeordnet. Wir brauchen nur eine Ecke von einem Haus zu sehen und schon vermuten wir, den Rest des Gebäudes zu kennen. Gleichmäßigkeiten beruhigen uns, deswegen suchen wir sie. Ist dies nicht der Fall, werden wir panisch. Daran hat das Hirn natürlich kein Interesse. Wenn wir auf wiederkehrende Ästhetik programmiert sind, müssten doch eigentlich alle Menschen den gleichen Geschmack haben.
Nein, denn Geschmack hängt mit unserem Bildungsniveau und mit unseren Erfahrungen zusammen. Ebenso von der jeweiligen Kultur, in der wir aufwachsen. Leider werden wir aber immer darauf getrimmt, Wiedererkennbares zu produzieren. Und das von klein auf. Ein Kind kritzelt etwas auf ein Blatt Papier und der Vater sagt: »Oh, ein Hund!« Das wiederholt er so oft, bis das arme Kind endlich Hunde malt. Am Ende nimmt er dem Kind sogar den Stift aus der Hand, nach dem Motto: Jetzt zeig ich dir mal, wie es richtig geht. Das finde ich fürchterlich.

Können wir uns von diesen Mustern lösen?
Nein, das geht nicht. Unser Blick wird ununterbrochen geschult. Wir schauen zum Beispiel meist durch rechtwinklige Gebilde auf diese Welt hinaus. So waren auch die Fenster in älteren Zügen relativ identisch mit der Proportion eines Fernsehers. Das änderte sich mit der Einführung des ICE. Da wurde das Format des Fensters zu Breitband. Jetzt haben wir sozusagen LED-Bildschirme, durch die wir uns beim Zugfahren die Welt ansehen.

Meistgelesen diese Woche:

Empfinden wir Dinge denn intuitiv als schön?
Untersuchungen zeigen, dass wir uns immer nach der gleichen Mechanik sehnen. Der Goldene Schnitt ist das Proportionssystem schlechthin. Man findet ihn überall, auch bei sich selbst. Das Verhältnis der Hand zum Unterarm entspricht dem Goldenen Schnitt. Das bedeutet: Die ganze Strecke vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen verhält sich zum längeren Teilstück, hier also der Unterarm, genauso wie der Unterarm zum kürzeren Teilstück, der Hand. Auch das Format der Scheckkarte, das christliche Kreuz, die Proportionen eines Fisches oder eines Stuhls von Ludwig Mies van der Rohe oder Charles Eames sind nach diesem System aufgebaut.

Wir sind also harmoniesüchtig?
Die Menschen haben schon immer versucht, sich die Welt als ein harmonisches Gefüge zu erklären. Wir wollen dieses Gerüst, um den Inhalt besser verstehen zu können. Bereits die Griechen liebten die Harmonie und bauten den Parthenontempel in Athen nach dem Goldenen Schnitt. Wir nehmen die Systematik aber nicht immer intuitiv wahr. Denken Sie an den Barock. Wir empfinden die Kunst und die Architektur heute als schwülstig, fast chaotisch. Das Gegenteil ist aber der Fall. Da waren die großen Harmonielehrer und Arithmetiker am Werk.

Baumeister und Künstler richten sich von jeher wie die Natur nach dem Goldenen Schnitt?
Na ja. Eigentlich schon. Aber wenn wir bei einem Fisch oder Tempel nachmessen, bemerken wir, dass er nicht genau dem Goldenen Schnitt entspricht.

Wir werden also um das perfekte Design betrogen?
Das kommt darauf an. Die Natur kann gar nicht so ordentlich sein. Ein perfekt geformtes Schneckenhaus oder die ideale Sonnenblume dürften schwer zu finden sein. Bei Artefakten kann man den Wunsch nach dem exakten Goldenen Schnitt erfüllen. Doch Designer wissen auch, dass ein Rechteck als viel rechteckiger empfunden wird, wenn man es minimal gewölbt zeichnet. Oder stellen Sie sich zum Beispiel einen Porsche 911 vor. Dieses Auto sieht für uns schnell und wendig aus. Nach aerodynamischen Gesichtspunkten würde es aber viel besser rückwärts fahren. Das widerspricht jedoch unseren ästhetischen Vorstellungen. Von daher könnte man manchmal sogar von Schummelei sprechen.

Gibt es denn auch Bereiche, in denen Proportionen überhaupt keine Rolle spielen?
Nein. Wir brauchen immer ein System. So fließt nicht alles ohne Orientierung ins Endlose. Es gibt aber Designer wie Ron Arad, Ettore Sottsass, Alessandro Mendini, die bewusst gegen Systeme gearbeitet und sich mit ihrer Zerstörung auseinandergesetzt haben.

Worum geht es diesen Designern dabei?
Sie wollen Aufsehen erregen. Denn es ist auch so: Über einen Gegenstand, der nicht traditionell aufgebaut ist, spricht man eher. Ich nenne so etwas »Conversation Pieces«, also Plauder-Gegenstände. Man kommt damit schnell mit anderen Menschen ins Gespräch: »Oh, was für eine aufregende Tasse, was für ein ungewöhnliches Kleid!« Alles, was streng systematisch aufgebaut ist, fällt hingegen gar nicht mehr auf. Manchmal stellt sich unser Geschmack auch quer. Wenn ich mit meiner Freundin in eine Ausstellung gehe und wir uns danach fragen, welches Bild uns spontan einfällt, sind es immer die doofen, die blöden Bilder. Für die man sich geniert. Wenn ich Sie jetzt bitte: Pfeifen Sie ein Lied – es ist bestimmt ein Schlager, von dem Sie nie gedacht hätten, dass Sie ihn im Kopf behalten. Entsetzlich.

Ist zu viel Ordnung nicht auch langweilig?
Das ist unsere heutige, sehr avancierte Vorstellung, die aber nicht für jeden gilt. Viele Menschen brauchen die Ordnung, um überhaupt handeln und leben zu können. Warum stehen wir am Morgen auf? Gäbe es nicht das System Alltag, könnten wir auch den ganzen Tag einfach im Bett liegen bleiben. Zum Glück haben wir gelernt, uns abends den Wecker zu stellen.

Gibt es neben dem Goldenen Schnitt eigentlich auch andere, modernere Regeln?
Es hat immer wieder Versuche gegeben, andere Systeme zu finden. Le Corbusier wollte zum Beispiel mit seinem Proportionsmodell »Modulor« der Architektur eine am Maß des Menschen orientierte Ordnung geben. Doch wie Leonardo da Vincis »Vitruvianischer Mensch«, der das Proportionsschema des menschlichen Körpers zeigt, orientiert er sich auch am Goldenen Schnitt. Wenn auch wieder nicht exakt.

Gilt denn weltweit die gleiche Definition für Schönheit?
Die Suche nach einer bestimmten Harmonievorstellung ist sicherlich überall vorhanden. Nur: Es gibt unterschiedliche Harmonien. Die Proportionslehre in Japan ist zum Beispiel völlig anders. Dort zählen die Maße der Tatamis. Das sind die Matten aus Reisstroh, die in Japan auf dem Boden liegen. Sie gelten als Flächenmaß bei Wohnungs- und Zimmergrößen. Das japanische Standardzimmer entspricht meist sechs Matten. Mit unseren Proportionssystemen und mit unserem Grundmuster von Schönheit haben die Tatamis aber nicht viel zu tun.

Können wir uns überhaupt an andere Harmonien gewöhnen?
Ja, wir brauchen zwar den Komfort der vertrauten Systematiken, aber irgendwann fällt eine anfängliche Andersartigkeit nicht mehr auf. Ebenso wichtig ist jedoch auch das Bewusstsein, dass es Dinge gibt, die nicht nach unserer Gewohnheit funktionieren. Sonst wären wir nur Automaten.

Wie ist das beim Essen?
Schmeckt uns etwas besonders gut, weil wir die Form als angenehm empfinden? Da bin ich mir nicht sicher. Aber auch hier wollen wir keine Überraschungen, sondern suchen die Wiederholung. Wenn das Thunfischfilet auf meinem Teller plötzlich rechteckig ist, wäre ich wohl deprimiert. Dann bestelle ich doch lieber gleich Fischstäbchen.

Michael Erlhoff ist Professor für Designtheorie und -geschichte an der Köln International School of Design.