Am vergangenen Wochenende bildeten gut eintausend rot gekleidete Menschen auf der stillgelegten Autobahntrasse der A4 nahe Kerpen in Nordrhein-Westfalen eine Kette. Eine rote Linie. Bis hier hin und nicht weiter, sollte das heißen.
Die Demonstranten trafen sich am Rande des von RWE betriebenen Tagebaus Hambach, der größten Braunkohleabbaustätte Europas, bald zehn mal acht Kilometer groß, aktuell 400 Meter tief – und stellten sich schützend vor den Hambacher Forst, ein ursprünglich 5500 Hektar großes Waldgebiet, das heute am Südrand des Braunkohlelochs nur noch 1500 Hektar misst, weil viele Bäume, wie auch die A4, dem wachsenden Tagebau bereits weichen mussten.
An der Menschenkette beteiligten sich Aktivisten, die sich weltweit gegen den klimaschädlichsten Energieträger engagieren genauso wie Bürgerinitiativen aus der Region, die Lärm und Luftverschmutzung fürchten. Es war ein breiter, friedlicher Protest.
Der Alltag am Rande des Tagebaus Hambach sieht anders aus: Seit April 2012 wird der Hambacher Forst von Braunkohlegegnern besetzt. Ihr Basislager hat die Gruppe, die je nach Jahreszeit aus fünfzehn bis fünfzig Personen besteht, mittlerweile auf einer benachbarten Wiese aufgeschlagen, die einem sympathisierenden Anwohner gehört. Im Wald haben die Aktivisten Baumhäuser und Barrikaden errichtet. In der jetzt beginnenden Rodungssaison sind sie darauf vorbereitet, sich zu verschanzen und festzuketten, um die unter Polizeischutz vorrückenden Forstarbeiter zu stoppen.
944 Strafanzeigen wurden im Zusammenhang mit der Rodung seit 2013 erstattet. Steine, Fäkalien oder Molotowcocktails wurden geworfen, Kabeltrassen in Brand gesetzt, Bagger oder Laufbänder blockiert. Bei RWE heißt es, die Arbeiter hätten Angst, die Gegner seien zu allem bereit. Im Waldbesetzercamp heißt es dagegen, der private Sicherheitsdienst, den RWE engagiert habe, gehe immer brutaler vor.
Drei Schauplätze der Reportage im 360°-Grad-Video:
Aus dem großen Streit um die Energiewende ist am Hambacher Forst ein kleiner Krieg geworden. Auf der einen Seite radikale Braunkohlegegner, die auf den hohen Kohlendioxidausstoß und die Zerstörung einer ganzen Region verweisen. Auf der anderen Seite ein unter wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Druck geratener Konzern und 1400 Mitarbeiter im Tagebau selbst, die darauf pochen, dass unsere Stromversorgung ohne die Braunkohle nicht gewährleistet wäre und dass die Menschen in der Region auf diesen Wirtschaftszweig angewiesen seien.
Der Fotograf Alexander Jesipow und ich reisten in diesem Sommer und Herbst mehrfach an den Hambacher Forst. Wir verbrachten viel Zeit mit den Aktivisten, besuchten aber auch die Arbeiter im Tagebau selbst, sprachen mit Anwohnern, deren Dorf bald der Braunkohle weichen muss – und mit den Akteuren im Hintergrund.
Wir verstanden bald: Es geht längst nicht mehr nur um den Wald. Der Wald ist nur ein Symbol. Die Waldbesetzer haben sich über die Jahre eine anarchistische Kommune aufgebaut, die für sie der letzte Rückzugsort in einer feindseligen Welt geworden ist. Und die Kumpel im Tagebau fürchten nicht bloß die Aktionen der Gegner. Sie fürchten längst um ihre Existenz. Es geht für alle um alles.
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Foto: Alexander Jesipow