Um was handelt es sich, wenn man einen Punk und einen Politiker aufeinanderprallen lässt? Eine Schnapsidee? Ein Experiment? Oder eine sinnvolle Alternative, weil es so selten passiert, dass sich ein hochrangiger Politiker geschweige denn Ministerpräsident herauswagt aus der schirmenden Talkshow-Logik und bereit ist, sich den Fragen eines wachen, kritischen, gebildeten und ja, auch wütenden Bürgers tatsächlich zu stellen.
Der Plan ist also, Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen, Theaterregisseur, sensibler, lustiger, kluger Rebell aus Hamburg mit dem beliebtesten Politiker Deutschlands sprechen zu lassen, Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Es geht darum, sich gegenseitig abzuklopfen und unter die Lupe zu nehmen, zu kritisieren, auszubremsen, anzuschubsen.
Von der Idee sind beide angetan. Kretschmann? »Ja, der wäre fein«, meint Kamerun. Der sei doch mal Kommunist gewesen, und jetzt sei er katholisch und konservativ und bei den Grünen. Da gebe es ein paar Gemeinsamkeiten und jede Menge Unterschiede: »Ideal für ein Gespräch!« Und der Ministerpräsident? Ist sofort dabei. Hat ihn prompt gereizt, die Kombination. Vielleicht ist er ja deshalb der beliebteste Politiker des Landes. Weil ihn so was interessiert. Weil er neugierig ist. Treffpunkt ist Kretschmanns Amtssitz, die Villa Reitzenstein über den Dächern von Stuttgart, genauer: in der holzvertäfelten Bibliothek. Zeit: 60 Minuten.
Stuttgart 21, Brexit, AfD, Trump – »Kann es sein, dass wir gerade alles ins Kippen bringen«, fragt Kamerun, »dass wir eine irrationale Lust auf Veränderung haben, weil wir im Westen entweder so übersaturiert oder so unterprivilegiert sind?« Und Kretschmann erwidert, indem er an die große Erzählung des vereinten Europas erinnert, die habe den Laden doch mal zusammengehalten, sei aber leider verblasst und müsse erneuert werden. Nur wie? In einer Gesellschaft, die immer weiter zersplittert, in der es nur noch Einsame, Vereinzelte, Interessensgemeinschaften gibt.
Die Systemfrage drängt sich auf: Brauchen wir wirklich immer noch mehr Wachstum? Oder gibt es einen Punkt, wo es auch mal gut ist? »Sorry«, sagt Kamerun, »wenn ich ausgerechnet vor Ihnen so 68er-mäßig rüberkomme, aber es ist Tatsache, dass wir seit einer Ewigkeit auf Kosten der anderen leben«, das Weltverschiebungsschlamassel sei vollständig hausgemacht.
Die Rollen sind schnell verteilt: Kamerun, der Utopist und Träumer, Kretschmann, der pragmatische Realpolitiker. Und doch verstehen sich die beiden, ja mehr noch, finden Gefallen aneinander, weil sie spüren, dass sie aus der gleichen Ecke kommend sich lediglich für unterschiedliche Wege entschieden haben. Der eine schwankt kreativ zwischen Wut und Melancholie, der andere glaubt an die Politik der kleinen Schritte.
Dabei erkennt Kretschmann die Bedeutung von Kameruns Utopien durchaus an, ja mehr noch, er hält sie für notwendig und hilfreich: »Die Kunst ist das Spielfeld, auf dem wir uns uneingeschränkt Dinge erlauben können, die wir uns im bürgerlichen Leben nicht erlauben können.« Aber jetzt bremst der Künstler: »Leider sind die meisten Optionen schon durchgespielt, inhaltsleer und zu reißerischen Unterhaltungsformaten verkommen.« Im Privatfernsehen kriege man den viel lauteren Matsch als in der Kunst. Überall nur noch Marke und Event, nirgendwo Alternativen, Leidenschaften, Optionen, die Identität ermöglichten.
Die Auswege werden weniger, die Nischen kleiner und doch: Kretschmann bleibt optimistisch. Scheitern nicht erlaubt. Die beiden diskutieren dann noch um Windräder, Hannah Arendt und James Bond, den Handywahnsinn und die Frage, ob und welcher Kapitalismus denn nun zum Ziel führe und was das eigentlich sein könnte, das Ziel, für die Gesellschaft. Für die Menschen. Für uns.
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Foto: Robert Brembeck