Die Gewissensfrage

»Kürzlich war ich im Kino. Sehr wenige Zuschauer. Kurz nach Beginn der Vorstellung setzte sich ein Mann direkt auf den Platz neben mir. Ich war sauer, traute mich aber aus Höflichkeit nicht, mich wegzusetzen. So habe ich mich den ganzen Film über geärgert. War das höflich oder blöd von mir?« DANIEL D., MÜNCHEN

Sich ostentativ wegzusetzen beinhaltet etwas Unfreundliches. Das wäre dann gerechtfertigt, wenn sich der andere seinerseits unfreundlich verhalten hat. War das so? Schließlich hat er sich nur auf einen Kinositz seiner Wahl gesetzt; ein Recht, das er sich mit dem Kauf einer Karte erworben hat.Doch ist eine rechtliche Befugnis allein noch nicht alles. Worum es hier geht, ist die Frage des räumlichen Abstands zwischen Menschen, in der Verhaltensforschung auch »personal space« genannt: eine Art Blase, ein Raum um eine Person herum mit unsichtbaren Grenzen, in die ein Fremder nicht eindringen sollte. Der Klassiker auf diesem Gebiet heißt »The Hidden Dimension« vom US-Anthropologen Edward T. Hall. Darin prägte Hall den Begriff»proxemics« (Proxemik) für die Lehre des Verhaltens in Bezug auf Wahrnehmung und Umgang mit Raum. Er unterschied verschiedene Distanzzonen, von intim über persönlich bis öffentlich. Der Sitzabstand im Kino fällt unter die persönliche Distanz (45 bis 120 cm), die man nur bei Wunsch nach Nähe oder Platzmangel eingeht, etwa im voll besetzten Kino. Beides lag bei Ihnen nicht vor.In jüngeren Forschungen der Proxemik werden verschiedene Funktionen dieses »personal space« diskutiert: die Kontrolle von Handlungsfreiheit und persönlicher Sicherheit (Schutz vor Bedrohung und Stress), die Steuerung der Kommunikation (mehr Nähe bedeutet mehr Austausch und Intimität) und die Möglichkeit der Privatheit zur Erholung. All dies hat Ihr ungeliebter Nebenmann beeinträchtigt.Trotz scheinbarer Friedlichkeit hat er sich also nicht einfach komisch benommen, sondern, indem er Ihren »personal space« grundlos missachtete, als echter Störenfried eine Breitseite von sozialem Missverhalten abgefeuert. Das müssen Sie sich nicht bieten lassen. Bei so einer Frechheit stellt es schon eine Leistung dar, nicht laut oder handgreiflich zu werden. Sich einfach stumm wegzusetzen, wäre nicht unhöflich, sondern nachgerade nobel.