Die Gewissensfrage

»Seit fünf Jahren wohne ich in einem Mietshaus. Die ganze Zeit über steht ein Rad ungenutzt im Keller. Inzwischen haben alle Mieter gewechselt – außer mir und zwei anderen, von denen ich weiß, dass ihnen das Fahrrad nicht gehört. Nun dachte ich, dass ich dieses Rad wieder fahrtüchtig machen und für zwei bis drei Monate nutzen kann, ohne es mir ganz anzueignen. Wäre das Ihrer Meinung nach statthaft?« RAFAEL T., MÜNCHEN

Ihre Frage würde sich gut als Strafrechtsklausur eignen: Ob Sie sich das Fahrrad wohl »aneignen« würden und den bisherigen Eigentümer »enteignen«, ob Sie dabei »Zueignungsvorsatz« hätten oder ob ein nur vorübergehender Gebrauch »gegen den Willen des Berechtigten« geschähe. Die Beurteilung hinge vor allem von zwei Fragen ab: Ist das »Nutzen« nur vorübergehend? Und stört das den wirklichen Eigentümer?Ganz lässt sich das nicht trennen, aber hier geht es weniger um rechtliche als um ethische Aspekte und wie sollen Sie sich in dieser Hinsicht verhalten? Am liebsten würde ich sagen: Lassen Sie die Finger davon! Sie wissen nicht genau, wem das Fahrrad gehört, aber eines gewiss: Ihnen nicht! Und eine Zeit von »zwei bis drei Monaten« ist vor diesem Hintergrund nicht gerade kurz.Andererseits hat niemand etwas davon, wenn ein Fahrrad im Keller verrottet, bis irgendwann einmal Ihre Urenkel endlich guten Gewissens ein Häufchen Rost entsorgen dürfen, weil der Letzte, der Auskunft über die wahren Eigentumsverhältnisse hätte geben können, viele Jahre zuvor gestorben ist. Wenn Sie eine praktikable Lösung wollen, müssen Sie genau auf diesem Gebiet tätig werden – auf dem der Eigentümerermittlung, nicht der Beseitigung verbliebener Zeugen. Keinesfalls reicht es aus festzustellen, dass das Fahrrad keinem der derzeitigen Mieter gehört. Als Mindestes müssten Sie diese und den Hausmeister fragen, was sie über das Rad wissen; vor allem aber die Hausverwaltung kontaktieren, ob sie etwas dagegen hat, wenn Sie es sich nehmen. Und ich finde, Sie sollten auch – soweit machbar – versuchen, mit ausgezogenen Bewohnern in Verbindung zu treten.Vielleicht erscheint Ihnen das zu umständlich. Aber Sie wollen sich hier nun einmal etwas Fremdes nehmen. Dabei müssen Sie die Rechtsordnung achten und nötigenfalls auch Aufwand treiben. Als Alternative haben Sie immer noch den regulären Weg ins Fahrradgeschäft. Schnell, einfach, klar und sogar mit Garantie.