Die Gewissensfrage

»Die Einladungen zu einem runden Geburtstag sind verschickt. Einige dankende Bestätigungen gingen telefonisch oder mündlich bereits ein. Wir erwarten jedoch auf schriftliche Einladungen auch schriftliche Antworten, ohne dies extra kundzutun. Liegen wir in den heutigen Zeiten falsch in der Annahme, eine Mühe sei der anderen wert? Erwarten wir eine Höflichkeit, die nicht mehr zeitgemäß ist?« ARTHUR F., BONN

»Geben Sie uns das bitte schriftlich rein!« Diesen Satz kannte ich bislang vor allem von Behörden, deren Mitarbeiter alle Vorgänge »zu den Akten nehmen« und sich die Mühe einer Gesprächsnotiz sparen wollen. Nun weiß ich nicht, ob auch Sie einen Akt angelegt haben: »In Sachen runder Geburtstag«. Dem kämen abheft- und archivierbare Bestätigungsschreiben sicher entgegen. Steht hingegen mehr das Fest im Vordergrund, tut es auch eine einfache Strichliste. Dabei könnten Sie, betrachtet man die Form als solche, sogar Recht haben. Soweit ich gehört habe, sollte die Zusage entsprechend zur Einladung erfolgen. Allerdings sind Sie mit der Fokussierung darauf bei mir an der falschen Adresse. Höflichkeit und Moral sind nicht nur zwei Paar Stiefel, sie schließen sich teilweise sogar aus. In Goethes Faust II heißt es: »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.« Kant meinte, die Höflichkeit sei »Scheidemünze«, also Kleingeld, besser als nichts, das abzuschaffen ebenso unsinnig wäre, wie es für bares Gold zu halten. Der französische Philosoph Comte-Sponville hält ihre moralische Reputation für zweifelhaft und bezeichnet sie als Scheintugend, welche nur so tue als ob und sich um die Moral so wenig schere wie die Moral um sie. Beide schätzen die Höflichkeit allerdings in der Erziehung zur echten Tugend, die man laut Aristoteles durch Einübung erwirbt. Abgesehen davon halte ich die Einhaltung von Benimmregeln dort für Pflicht, wo sie einen Zweck erfüllen, zum Beispiel andere vor Kränkungen zu bewahren; in allen übrigen Fällen dagegen für Kür. Ihre schreibfaulen Freunde bekämen bei mir, wenn überhaupt, lediglich Abzüge in der B-Note.Ziel einer Einladung scheint mir weniger die Antwort in einer bestimmten Form zu sein, sondern in erster Linie das Erscheinen von Gästen, die sich wohl fühlen. Ein gut gelaunter unterhaltsamer Besuch dürfte sich bei mir auch per Rauchzeichen melden.