Die Gewissensfrage

»Bei einem Skiunfall habe ich mir ein Kreuzband gerissen. Danach hatte ich große Schmerzen, Probleme mit den Krücken, konnte nicht Auto fahren. Zu Hause ein Chaos: zwei kleine Kinder, ein großer Hund in einem alten Bauernhaus mit engen Treppen. Deshalb bewilligte mir mein Arzt eine Haushaltshilfe. Kurz darauf kam ich schon wieder ganz gut zurecht, auch weil viele Freunde mir unentgeltlich ihre Hilfe anboten. Soll ich die Haushaltshilfe nun trotzdem beantragen oder eine Bekannte anmelden, um den Zuschuss zu erhalten? Ich habe ja einen Anspruch, schröpfe aber dabei die arme Kasse.« MARION S. , STUUTTGART

Man könnte nun prüfen, ob tatsächlich ein Anspruch auf Haushaltshilfe besteht, doch scheint mir dies für unsere ethischen Überlegungen zweitrangig. Ihr Arzt hat die Hilfe pflichtgemäß verordnet und hier geht es ja nicht um Sozialrecht, sondern um Moral. Auf diesem Gebiet aber stellt sich die inte-ressante Frage: Wie sieht es aus, wenn Ihnen de jure etwas zusteht, was Sie aber de facto nicht unbedingt benötigen?Es gibt eine Rechtsfigur, die ich sehr gern mag: die diligentia quam in suis, wörtlich: »die Sorgfalt wie in Eigenem«. Ihr zufolge muss man in bestimmten Zusammenhängen anderen gegenüber nicht ein abstraktes Maß, sondern so viel an Sorgfalt walten lassen, wie man sie auch für eigene Angelegenheiten aufwendet. Nun bedeutet diligentia nicht nur Sorgfalt, sondern auch Wirtschaftlichkeit, sodass ich diese Idee übertragen möchte auf alle Situationen, in denen man auf fremde Rechnung Geld ausgeben darf, zum Beispiel Spesen oder versicherte Schäden: Stets sollte man so wirtschaften, als müsste man aus eigener Tasche bezahlen. Eine Versicherungsleistung – insbesondere der Sozialversicherung – ist keine Ölquelle, die man auf seinem Grundstück entdeckt hat und nun möglichst reichlich sprudeln lässt. Es geht um einen Ausgleich: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Konkret: Haben Sie Hilfe erhalten, welche Sie selbst würden honorieren wollen, sollten Sie dies auch gegenüber der Kasse geltend machen. Haben Ihnen Ihre Freunde in normalem Ausmaß geholfen und Sie kamen gut über die Runden, sehe ich keinen Grund für einen Hilfsantrag. Natürlich kann man auch vertreten, es sei legitim, sich all das zu nehmen, worauf man einen Rechtsanspruch hat. Doch erwachsen meines Erachtens viele Probleme, an denen unsere Gesellschaft krankt, aus ebendieser Haltung.