Die Gewissensfrage

»Aus Liebe zu einem Marokkaner konvertierte meine beste Freundin zum Islam. Seitdem wird sie immer fundamentalistischer und ihr Wertesystem ändert sich rapide. Ich kann und will ihre neuen Ansichten auch nach ernsthafter Auseinandersetzung nicht teilen. Toleranz gegenüber Minderheiten, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie Menschenrechte sind in meinen Augen unabdingbar. Wie kann ich den Spagat schaffen zwischen dem in vielen gemeinsamen Jahren errungenen Vertrauen zu meiner Freundin und diesen Veränderungen? Wie weit muss und kann Freundschaft gehen?« ANDREA K., BERLIN

Man könnte nun versuchen, Ihr Problem auf der Ebene der Toleranz zu lösen, doch träfe es das meiner Ansicht nach nicht wirklich. Ihnen geht es ja weniger um die Frage, wie Sie allgemein mit Menschen umgehen sollen, die solche, unserem Wertesystem fundamental widersprechenden Ansichten vertreten, sondern um Ihre Freundin: Müsste nicht eine Freundschaft, wenn sie denn wertvoll ist, derartige Widersprüche ertragen?Grundlegend zum Thema Freundschaft sind nach wie vor Aristoteles’ Ausführungen im achten und neunten Buch seiner Nikomachischen Ethik. Er unterscheidet zwischen Freundschaften aus Nutzen, aus Lust und der Tugendfreundschaft. Übersetzt wären das eine Zweckfreundschaft »mit Hintergedanken«, eine sexuelle Beziehung und eine echte tiefe Freundschaft. Aristoteles fragt nun, ob man eine Freundschaft mit Menschen, die sich verändern, aufheben soll. Bei der Nutz- oder Lustfreundschaft scheint ihm das selbstverständlich: »Denn man war ja Freund von jenem, und da jenes den Menschen verlassen hat, so ist es begreiflich, dass man nicht mehr liebt.« Allerdings stellt sich das Verhältnis zu Ihrer Freundin eher als »Tugendfreundschaft« dar, aber auch da spricht sich Aristoteles klar für ein Ende der Freundschaft aus: »Denn mit einem solchen Menschen war man nicht befreundet; und wenn man den, der sich verändert hat, nicht zurückholen kann, so verzichtet man.« Das klingt hart, trifft aber meines Erachtens den Kern. Zum Wesen der Freundschaft gehört zwar, dass sie auch Durststrecken überwinden kann, doch wenn es in Gegenwart und Zukunft keine gemeinsame Basis mehr gibt, weil man sich mit dem veränderten Menschen niemals befreundet hätte, handelt es sich bei den Gefühlen für ihn nicht um Zuneigung, sondern um Sentimentalität.Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger: gewissensfrage@sz-magazin.de.