Die Gewissensfrage

»Neulich wollte ich ein Buch kaufen, das mir allerdings zu teuer erschien. Es war in einem großen Buchladen, wo es Sofas gibt, in denen die Leute in Büchern und Magazinen blättern können. Ich bin dann fünfmal dorthin gegangen und konnte so das Werk komplett durchlesen, ohne es zu kaufen. Das Buch habe ich nicht geklaut, wohl aber den Inhalt. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben?« GERD S., MAINZ

Kann man ohne Kopie, Raubdruck, Plagiat den Inhalt eines Buches klauen? Und ob!, wird mancher Jurist rufen, der sich damit bei einem ganz speziellen Buch unter Schlag-worten wie Substanztheorie, Sachwerttheorie und Vereinigungstheorie herumplagen musste: Wer ein Sparbuch kurz an sich nimmt, zur Bank geht und das Geld abhebt, hat das ganze Buch gestohlen, auch wenn er es sofort zurückbringt – sagte schon das Reichsgericht. Maßgebend sei, dass der Täter sich »unter Anmaßung der Rechte des Eigentümers den im Sparbuch verkörperten Sachwert verschaffen und den Berechtigten davon auf Dauer ausschließen« wolle. Gilt das auch, wenn Sie sich bloß den in einem normalen Buch verkörperten, intellektuellen Sachwert – dessen Inhalt – verschaffen? Vorab: Um echten Diebstahl geht es keinesfalls. Sie haben das Buch niemandem weggenommen, nicht aus dem Laden geschafft. Außerdem war nach Ihrem Durchackern das Buch nicht leer und Gebrauchsspuren hätte es auch beim intensiveren Blättern bekommen. Trotzdem haben Sie meines Erachtens so etwas wie intellektuellen Diebstahl begangen.Zu diesem Schluss kommt man, wenn man überlegt, worin der »wirtschaftliche Gehalt« eines Buches besteht. Üblicherweise wird das die Summe des Interesses jedes einzelnen Lesers am Inhalt sein – ausgedrückt und in ökonomische Größen übertragen im »Akt des Kaufens«. Wenn Sie nun im Laden systematisch alles lesen und dadurch Ihr Interesse ohne Kauf befriedigen, berauben Sie das Buch in Bezug auf Sie selbst seines wirtschaftlichen Werts; und damit wären wir fast schon wieder beim Reichsgericht und dem abgeräumten Sparbuch.Außerdem: Der nette Herr oder die nette Dame, die Ihnen das Buch unter dem Schild »Gerne können Sie in unserer Leseecke schmökern« in die Hand gedrückt haben, nennen sich Buchhändler und nicht Bibliothekare. Vermutlich mit Absicht, sie leben vom Verkaufen. Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.