Wie mit selbst verschuldeter Not umgegangen werden sollte, darüber wird in der Gerechtigkeitsphilosophie heftig diskutiert. Und selbst verschuldet dürfte die Kirchenbanknot der alten Dame vermutlich sein. Einmal vorausgesetzt, sie hat nicht auf schneeglatter Straße wegen ihrer Gebrechen den Schritt verlangsamen müssen und den Bus um Rauschgoldengelhaaresbreite verpasst. Ansonsten wäre es auch ihr möglich gewesen, früher zu erscheinen und sich eine freie Bank auszusuchen. Man kann deshalb leicht, von gewichtigen Argumenten gestützt, erhobenen moralischen Hauptes sein eigenes Erheben verweigern.So weit, so gut; doch scheinen mir diese Überlegungen reichlich theoretisch. Sie sind doch unter anderem deshalb vom heimischen Gabentisch in die Kirche geeilt, um dort das Weihnachtsevangelium zu hören. Auch da geht es um Platz: Weil Maria und Josef keinen Raum in der Herberge fanden, musste das Jesuskind schließlich in einem Stall zur Welt kommen. Wollen Sie wirklich bequem sitzend dieser Geschichte lauschen, nachdem Sie Ihren Platz in der Kirchenbank gegen eine – warum auch immer – Bedürftige verteidigt haben? Mögen Sie moralphilosophisch noch so berechtigt sein, Ihre Gedanken sind unweihnachtlich. Das wäre für sich allein noch kein Grund zum Schämen. Niemand muss, nur weil am Kalender gleichzeitig die Zahlen 24 und 12 auftauchen, plötzlich ein Zimtsternleuchten in den Augen bekommen und zum inneren und äußeren Gutmenschen mutieren. Allein: Sie gehen zur Christmette. Und wenn Sie das nicht nur aus folkloristischen Gründen tun, sollte Ihnen Ihr Grummeln in der Tat zu denken geben.Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.
Die Gewissensfrage
»Letztes Jahr ging ich zur Christmette in den Alten Peter. Da mit großem Andrang zu rechnen war, kam ich eine halbe Stunde zu früh, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Zwei Minuten vor Beginn betrat eine alte, gehbehinderte Frau die Kirche und ging langsam den Mittelgang nach vorn, wo sie abwartend stehen blieb – bis ihr auch tatsächlich ein Sitzplatz angeboten wurde. Wenn sie sich vor mir aufgebaut hätte, wäre ich wohl aufgestanden, aber nur mit einigem Grummeln: Schließlich hätte sie ja auch früher kommen können. Gleichzeitig schämte ich mich für den wenig weihnachtlichen Gedanken – zu Recht?« JULIA B., MÜNCHEN