Die Gewissensfrage

»Beim Frühjahrsputz bin ich erneut auf ein altes Kreuz gestoßen. Ich lege es seit ungefähr zwei Jahren von einem zum anderen Platz, weil ich nicht weiß, was ich damit machen soll. Eigentlich brauche ich es nicht, dennoch sagt irgendetwas in mir, dass man ein derartiges Symbol nicht einfach in den Müll schmeißen kann. Ich war selbst einmal Ministrant, aber mit der katholischen Kirche kann ich mich nicht mehr identifizieren, auch wenn ich an Gott glaube. Darf man ein Kreuz wegwerfen?« PAUL B., KÖLN

Zugegeben, auch mir geht der Satz nicht einfach über die Lippen, aber nach längerem Nachdenken und Recherchieren komme ich zu keinem anderen Schluss: Ja, aus moralischer Sicht darf man ein Kreuz wegwerfen. Das habe ich absichtlich ebenso provokant und hart formuliert wie Sie Ihre Frage, was neben der Begründung dieser Ansicht einige Anmerkungen notwendig macht.Als Erstes braucht man einen Ausgangspunkt für die Überlegungen. Da Ihnen beim Aufräumen der Gegenstand, nicht seine Bedeutung im Wege steht, sollte man meines Erachtens damit beginnen: Zunächst handelt es sich bei einem Kreuz um einen Gegenstand. Und Gegenstände darf man wegwerfen – sofern nichts Spezielles dagegen spricht. Darum geht es in diesem Fall, und ich sehe drei Aspekte, die dafür in Frage kommen: Ihre eigene Religiosität, die Religiosität anderer oder ein dem Kreuz innewohnender, über das Materielle hinausgehender Wert. Ihre Frage lässt ein wenig offen, ob Sie noch etwas mit dem Kreuz verbinden. Wenn ja, wäre es Ihren eigenen Empfindungen gegenüber angebracht, es nicht wie etwas Wertloses zu behandeln. Gleich, ob es sich dabei wirklich um eine moralische Erwägung handelt, auf jeden Fall wäre es ein Akt der Klugheit, darauf zu achten, womöglich bereuen Sie Ihre Tat sonst später. Eine klare Grenze setzen jedoch auf jeden Fall die religiösen Gefühle anderer: Sie möglichst nicht zu verletzen ist ein allgemeines Gebot, das Sie, was Sie auch immer mit einem Kreuz machen, beachten müssen. Diese Rücksichtnahme kann Sie nicht zwingen, das Kreuz auf Dauer zu bewahren, aber sie würde etwa verbieten, es zum Zwecke der Entsorgung öffentlich klein zu hacken.Da Sie das vermutlich nicht planen, bleibt der dritte, entscheidende Punkt: Hat ein Kreuz einen eigenen spirituellen Wert, ist es, salopp ausgedrückt, per se heilig? Nach Auskunft beider großer Kirchen entspricht dies nicht der christlichen Sichtweise. Ihr zufolge kann ein Gegenstand immer nur dem Glauben dienen oder als Symbol die Heilsgeschichte dem Menschen nahebringen, sollte aber nie selbst Objekt der Verehrung oder gar Anbetung werden. Zwar hat das alttestamentarische Verbot »Du sollst Dir kein Bildnis machen ... bete sie nicht an und diene ihnen nicht« in den katholischen und lutherischen Kirchen nach der Menschwerdung Christi als »Ebenbild Gottes« nicht mehr den Stellenrang eines eigenen Gebotes; dennoch bleibt auch hier die Grundidee, der Entstehung von Götzenbildern, die als Sache eigene religiöse Bedeutung erlangen, entgegenzutreten. Deshalb stehe ich auch Bräuchen, wie nicht benötigte Kreuze zu begraben oder als Abwehr gegen das Böse auf dem Dachboden aufzuhängen, eher skeptisch gegenüber. Ich sehe hier sogar eine gewisse Nähe zu Aberglauben oder religiösem Fetischismus.Von verschiedener Seite habe ich den Vorschlag gehört, das Kreuz bei einer christlichen Einrichtung abzugeben, die vielleicht noch Verwendung dafür hat. Das halte ich für einen, wenn auch aus obigen Gründen nicht zwingend gebotenen, so doch praktikablen und sinnvollen Weg, zumal er wohl auch Ihren Gefühlen in dieser Angelegenheit am ehesten entspräche.