Natürlich haben Sie ein Recht, Ihr Leben darzustellen. Zudem können Sie für sich reklamieren, dass Sie womöglich eine schwierige Kindheit hatten und anderen durch Aussprechen des Tabuthemas ein ähnliches Los ersparen wollen. Deren Schicksal kann vielleicht wirklich nachhaltig gebessert werden, ein Umstand, dem besonderes Gewicht zukommt, da es hier um Verhinderung zukünftigen Unglücks geht. Ebenso natürlich hat aber auch Ihr Vater ein Recht, sein Leben nicht an die große Glocke zu hängen. Stimmt er der Veröffentlichung zu, ergeben sich keine Probleme; was jedoch, wenn er sich dagegen ausspricht? Das mag Sie nun überraschen, da Ihr Vater mit seinem frü-heren Verhalten die Probleme überhaupt erst geschaffen hat: Dennoch hätte sein Veto für mich Gewicht.Nicht, weil ich es guthieße, im Gegenteil, ich rate Ihrem Vater zur Zustimmung. Aber ich würde seine gegenteilige Entscheidung respektieren. Zum einen, weil Alkoholis-mus kein vorwerfbares Verhalten darstellt, sondern eine Krankheit, und das Loskommen Ihres Vaters eine anerkennenswerte Leistung. Daneben zählt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – selbst festzulegen, welche persönlichen Informa-tionen an andere gelangen – zu den elementaren Grundrechten. Entscheidend für mich aber ist letztlich eines: Immanuel Kant meinte, dass »vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet…« In Ihrer Geschichte zum Thema alkoholbelastete Familien spielt Ihr Vater eine oder die Hauptrolle. Für das, was Sie mit einer Veröffentlichung erreichen wollen, müssen Sie notwendigerweise zentrale Teile seiner Biografie und damit auch seiner Person als Mittel benutzen. Geschieht dies gegen seinen Willen, opfern Sie ihn dem guten Zweck und degradieren ihn in dieser Hinsicht zum Objekt. Gewiss muss man hier abwägen und es spricht vieles für Ihr Anliegen, dieser Aspekt gibt jedoch für mich hier trotz bester Absichten den Ausschlag.
Die Gewissensfrage
»Zusammen mit anderen Betroffenen habe ich einen Verein gegründet, der Kindern aus alkoholbelasteten Familien Hilfe anbietet. Nun will ein großer Fernsehsender über unsere Arbeit berichten. Ich wollte dies mit meinem inzwischen trockenen Vater besprechen und sein Einverständnis einholen. Inzwischen frage ich mich allerdings, ob das nötig ist. Ist es nicht mein Recht, meine Geschichte – um anderen Betroffenen zu helfen – jedem zu erzählen, selbst wenn das Familienmitglieder beeinträchtigt? Oder hat meine Familie das Recht, ihre Geschichte für sich zu behalten?« MICHAEL B., FRANKFURT/MAIN