Die Gewissensfrage

»Vor einiger Zeit war mein Friseur im Urlaub. Daher ließ ich mir von einem seiner Kollegen die Haare schneiden. Der Schnitt war ausgezeichnet, der etwas andere Stil gefiel mir deutlich besser als der gewohnte. Nun ist mein Friseur, bei dem ich schon lange Stammkundin bin, wieder da, und ich gehe zu ihm, obwohl ich viel lieber zu seinem Kollegen möchte. Ich habe schon überlegt, ob ich mir an einem freien Tag meines Friseurs einen Termin bei seinem Kollegen hole, um meinem schlechten Gewissen aus dem Weg zu gehen. Was würden Sie in dieser Situation tun?« CARLA F., Stuttgart

Eigenartig. Das Haupthaar scheint deutlich häufiger in Gewissensfragen aufzutauchen, als man gemeinhin Moralprobleme dort vermuten würde. Darunter einer der Klassiker schlechthin: Welches Ausmaß an Ehrlichkeit erfordert die Antwort auf die Frage »Wie findest du meine neue Frisur?« Und nun eine neue Variante unter dem Stichwort »Figaros Freizeit«. Noch öfter begegnet man Friseuren wirklich nur mehr auf der Opernbühne.

Andererseits könnte diese eigenartige Ballung auch einen Hinweis auf den noch ungeklärten Sitz des Gewissens liefern. Nicht im Gehirn sollten die Neurobiologen nachsehen, sondern darüber. Als Sitz von Fähigkeiten sind die Haare immerhin schon lange bekannt – aus für Moralfragen höchst legitimierter Quelle: Der biblische Samson trug, wie man im Buch der Richter nachlesen kann, seine Kräfte in den Locken. Auch Immanuel Kants Bild vom »inneren« Richter sollte der Beheimatung über der Schädeldecke nicht entgegenstehen, der Königsberger war schließlich Philosoph und nicht Anatom. Zudem böte die Neuverortung im Schopf auch eine höchst pragmatische Lösung Ihres Problems: So wie Samson seine Kraft verlor, als Delila ihm die Haare scheren ließ, müssten Sie nur bei Ihrem neuen Friseur einen Kurzhaarschnitt ordern und mit den Locken fiele auch jegliches schlechtes Gewissen von Ihnen ab.

Schwierig wird es jedoch, wenn wir uns täuschen oder Ihnen kurze Haare nicht stehen. Deshalb würde ich entweder meinen alten Friseur bitten, den Schnitt von seinem Kollegen zu übernehmen oder mit einem charmanten Hinweis à la »Jetzt darf ein-mal ein anderer ran« wechseln. Denn auch wenn Ihr Gewissen nicht dort sitzen sollte, bleibt die Frisur Teil Ihrer Persönlichkeit. Außerdem haben Sie nur einen Kopf, Ihr Friseur hat dagegen bis zu Ihrem nächsten Besuch ein paar hundert frisiert.

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Illustration: Jens Bonnke