Die Gewissensfrage

"Ich reise gern mit dem Zug, weil ich so in Ruhe arbeiten oder lesen kann. Allerdings stört mich die allzu große Nähe von Mitreisenden, daher setze ich mich immer in ein möglichst leeres Abteil. Bei jedem Halt wende ich folgenden Trick an: Ich kratze mich auffällig, sobald ein Fahrgast durch die Scheibe nach einem Platz schaut. Vermutlich löse ich einen Urinstinkt aus, denn fast alle gehen hastig weiter. Nun freue ich mich über meine Ruhe, aber mich plagt mein Gewissen, schließlich manipuliere ich nichts ahnende Leute. Wie schätzen Sie mein Verhalten ein?" Harald O., Wiesbaden

Wie ich Ihr Verhalten einschätze? Als grässlich! Dabei ist es gar nicht so sehr die Methode, die mich stört. Wenn ich ehrlich bin, gefällt sie mir sogar ein klein wenig. Neben der Skepsis gibt es da auch irgendetwas zwischen Hochachtung vor der Idee und einem kleinen Schmunzeln über den Trick: Er verletzt niemanden, ist ziemlich intelligent und nutzt etwas aus, was Sie Urinstinkt nennen, was man aber – denkt man mehr an allergische Hautkrankheiten als an Parasiten – auch als Vorurteil bezeichnen könnte.

Dass es sich dabei um eine Manipulation handelt, macht die Sache etwas haariger. Für gewöhnlich lehne ich derartiges ja rundheraus ab, weil es einen Angriff auf die Freiheit der Opfer darstellt. Andererseits kennt man zwischenmenschliche Manipulationen auch aus positiven Zusammenhängen, zum Beispiel in Liebesdingen. So manche kleine Aufmerksamkeit, mancher Blumenstrauß oder romantisches Abendessen zielt einzig darauf, das Herz des oder der Angebeteten mit feinem Garn so lange zu umspinnen, bis es – ohne dass man genau weiß, warum – plötzlich auch für den Fadenzieher schlägt. Doch hier bilden unschöne Absicht und fragwürdige Methode eine unheilige Allianz: ein Sich-breit-Machen, gepaart mit dem Wunsch, immer das Beste für sich herauszuholen. Noch schlimmer sind die Menschen, die in einem voll besetzten Zug Taschen auf die benachbarten Plätze stellen, in der Hoffnung, dass andere lieber weitergehen statt zu fragen, ob frei sei. Die Platzgreifer, die selbst meist keinerlei Hemmungen kennen, nutzen die Zurückhaltung derer, denen es unangenehm ist zu fragen, planvoll zu ihrem eigenen Vorteil aus.

Und in abgeschwächter Form trifft das auch auf Sie zu. Ja sicher, auch ich sitze lieber ungestört mit viel Platz als zusammengedrängt Knie an Knie. Aber mehr noch als die Enge stören mich ausgefahrene Ellenbogen – in welcher Form auch immer.

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Illustration: Marc Herold