Die Gewissensfrage

»Ich stand neulich an der Supermarktkasse und sah, wie eine muslimische Frau Gummibärchen für ihre Kinder kaufte. Meines Wissens kommen Bestandteile der darin enthaltenen Gelatine vom Schwein, und daher müsste diese Süßigkeit gläubigen Muslimen eigentlich verboten sein. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob die Frau wirklich wusste, welche Inhaltsstoffe in den Gummibärchen sind. Hätte ich sie ansprechen und darauf hinweisen dürfen oder sogar sollen, oder wäre das eine zu große Einmischung in fremde Angelegenheiten gewesen?« Lena Z., Bottrop

Die Einmischung in fremde Angelegenheiten ist eines der heikelsten Kapitel der Alltagsmoral. Und dass es hier um Religion geht, macht es bestimmt nicht einfacher. Deshalb zunächst zu den Tatsachen: Meinen Recherchen zufolge enthalten viele Gummibärchen hierzulande tatsächlich Gelatine aus Schweineknochen oder -schwarten – ob ein gläubiger Muslim sie essen darf, wird unterschiedlich beurteilt. Einige Religionsgelehrte vertreten die Auffassung, durch die chemische Verarbeitung komme es bei der Herstellung der Gelatine zu einer neuen molekularen Zusammensetzung und deshalb zu einer »Tahuiil« genannten Umwandlung, die aus den verbotenen Schweinebestandteilen eine neue, erlaubte Substanz entstehen lasse. Da andere Gelehrte dem widersprechen, wird Gläubigen vorsichtshalber vom Verzehr abgeraten.

Was bedeutet das für Sie, die Sie von diesem Verbot zwar wissen, aber nicht persönlich betroffen sind? Ich bin der Meinung, dieses Wissen sollte Sie veranlassen, etwas zu sagen. Und würde dies mit Toleranz begründen. Das mag Sie überraschen, aber Toleranz sollte meines Erachtens mehr beinhalten als das bloße Erlauben oder pragmatische Akzeptieren anderer Meinungen. Für mich gehört zu ihr der Respekt vor dem anderen Menschen – mit seinen Einstellungen; für manche sogar die Wertschätzung befremdender Überzeugungen und Praktiken. Achtet man aber den anderen, kann man ihn kaum guten Gewissens ahnungslos etwas tun lassen, von dem man annehmen muss, dass es seinen Überzeugungen zuwiderläuft und ihn womöglich in seiner Selbstachtung beeinträchtigt. Eine Hinweispflicht endet freilich dort, wo fremde Überzeugungen mit eigenen Wertvorstellungen kollidieren. So bräuchten Sie auch keinen Rechtsradikalen davor zu warnen, im Suff versehentlich einem Ausländer die Hand zu schütteln. Die Frage, ob man Süßigkeiten mit oder ohne Schweineanteil isst, scheint mir jedoch nicht in diese Kategorie zu fallen.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

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Literatur:
Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003

Illustration: Marc Herold