Die Gewissensfrage

"Im Internet gibt es ja viele Arten, Freundschaften zu pflegen, bei StudiVZ, bei den Lokalisten oder bei Facebook. Nun starb eine Bekannte, mit der ich zur Schule ging. Soll ich unsere ,Freundschaft auf diesen Internetseiten bestehen lassen, als Gedenken, oder darf ich sie beenden, auch um nicht dauernd an ihren Tod erinnert zu werden? Oder wäre das schlimm oder sogar beleidigend, sollten ihre Eltern Zugriff auf das Konto haben? Hannelore K., Magdeburg

Die damnatio memoriae, die »Verdammung des Gedächtnisses«, war eine der schlimmsten Strafen in der römischen Antike: Wurde ein Mächtiger nach seinem Tod zum Staatsfeind erklärt, zerstörte man seine Statuen, entfernte seinen Namen aus Inschriften, unternahm alles, um die Erinnerung an ihn zu tilgen. Man tötete ihn gleichsam ein zweites Mal, diesmal aber vollständig, fast rückwirkend, als hätte er nie gelebt.

So gesehen stellt die Erinnerung den Lebensraum der Verstorbenen dar.
Dem kommt das Internet entgegen, von dem ja oft gesagt wird, dass es nie vergisst. Deshalb gibt es auch immer mehr Webseiten, auf denen Verstorbener gedacht wird. Möglich ist das natürlich auch bei Homepages und, wie hier, bei Profilen in sozialen Netzwerken. Dabei tritt aber zunehmend das spiegelbildliche Problem auf: Für Erben oder Angehörige kann es schwierig sein, auf Daten zuzugreifen und sie gegebenenfalls zu löschen; weshalb inzwischen empfohlen wird, eine Art »digitales Testament« mit Passwörtern und Anweisungen zu hinterlegen. Insgesamt befindet man sich im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen, und das führt uns zurück in die Antike: Im alten Griechenland kannte man die Göttinnen Mnemosyne und Lethe sowie zwei nach ihnen benannte Flüsse. Während Mnemosyne, Mutter der Musen, die Göttin der Erinnerung war, diente Lethe dem Vergessen – für dessen Bedeutung die Mythologie ein schönes Bild bereithielt: Erst ein Schluck aus dem Fluss Lethe gab den Seelen die Möglichkeit, ihre alte Existenz zu vergessen und dadurch frei zu werden für die Wiedergeburt in einem neuen Leib.

Das möchte ich – zugegebenermaßen kühn – übertragen: Es ist schön, wenn Sie Ihrer Bekannten gedenken, aber Sie können nicht gezwungen werden, das auf Dauer laufend zu tun. Nur durch die Möglichkeit, zumindest teilweise zu vergessen, kann man frei werden für Neues.

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Literatur: Harald Weinrich, Lethe – Kunst und Kritik des Vergessens, C.H. Beck Verlag München, 2005 Gary Smith / Hinderk M. Emrich (Hrsg.), Vom Nutzen des Vergessens, Akademie Verlag Berlin, 1996

Illustration: Marc Herold