»Meine Frau hatte zehn Freundinnen zu uns nach Hause eingeladen. Einige kannte ich sehr gut, andere nur flüchtig. Als Hausherr begrüßte ich nun alle mit Handschlag, da ich es vermeiden wollte, einige – mir gut bekannte – Freundinnen wie sonst mit Wangenkuss und andere – mir nicht so gut bekannte – mit Handschlag willkommen zu heißen. Meiner Ansicht nach hätte das zu einem Befremden bei den ›Ungeküssten‹ geführt. War das richtig? Beim Handkuss heißt es doch auch: entweder alle oder gar keine.« Bertold K., Frankfurt
Eine klassische Benimmfrage, dachte ich mir, die gehört doch nicht hierher, wo es um Moral gehen soll. Andererseits bin ich der Meinung, dass Höflichkeit keine Benimmratgeber benötigt, sondern sich von allein ergibt, wenn man sich überlegt, was in zwischenmenschlicher Hinsicht hinter den Benimmregeln steckt.
Zum Handkuss gibts eine ganze Reihe von Regeln. Etwa dass man ihn nur in geschlossenen Räumen geben darf und wie man ihn auszuführen hat: je nach Schule ohne Berührung der Hand mit den Lippen oder mit leichter trockener Berührung. Vor allem aber auch, wie Sie schreiben, dass man ihn tatsächlich, wenn man ihn denn gibt, allen anwesenden Frauen geben sollte. Aber warum? Hier wird’s interessant. Seiner Herkunft nach ist der Handkuss eine Geste des Respekts, was man heute noch beobachten kann: beim zeremoniellen Küssen der Ringe des Papstes und katholischer Bischöfe oder in Filmen wie Der Pate, wenn der jeweilige Mafiaboss sich von seinen Getreuen als Zeichen der Anerkennung seiner Macht die Hand küssen lässt. Das erklärt, warum man ihn jeder anwesenden Dame geben muss: Ihn selektiv zu geben hieße, einigen der Damen den Respekt zu verweigern.
Anders hingegen Umarmung und Küsschen, in München auch als »Bussi-Bussi« bekannt. Historisch betrachtet, handelt es sich dabei um eine Abwandlung der klassischen Akkolade, die man wörtlich mit »Umhalsung« übersetzen könnte: die Umarmung bei einer Ordensverleihung oder der Aufnahme in einen Ritterorden. Umarmung und Küsschen sind also im Gegensatz zum Handkuss weniger Zeichen des Respekts als vielmehr Zeichen des Dazugehörens und damit der Nähe. Ein Ergebnis, das sich mit den unterschiedlichen Gefühlen bei Handkuss oder Umarmung deckt und zu dem man deshalb vermutlich auch ohne historische Betrachtungen gelangen könnte. Und es beantwortet auch Ihre Frage: Vom sozialen Gehalt her sind Umarmen und Küssen eher mit dem Duzen vergleichbar als mit dem Handkuss. Als Zeichen der Nähe sollte man diese Gesten auch nur denjenigen angedeihen lassen, die einem nahe sind. Und das müssen bei einer größeren Gruppe nicht notwendig alle sein. So wie man auch nicht stets alle duzen muss, wenn man einen oder eine duzt.
Quellen
Asfa-Wossen Asserate, Manieren, dtv München 2005
Dort insbesondere die Kapitel „Die Begrüßung" und „Der Handkuss"
C. Bernd Sucher, Handy, Handkuss, Höflichkeit. Das Handbuch des guten Benehmens. Knaur Taschenbuch Verlag, München 2007
Sybil Gräfin Schönfeldt, 1x1 des guten Tons. Das neue Benimmbuch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991
Elisabeth Bonneau, 300 Fragen zum guten Benehmen, Graefe und Unzer, München 2007
Illustration: Marc Herold