Die Gewissensfrage

Job, Familie, Gesundheit, Status - alles gut. Muss man ein schlechtes Gewissen haben, wenn man im Leben so viel Glück gehabt hat?

 »Ich bin mir bewusst, dass ich, was äußere Umstände wie sozialer Standard, Ausbildung, Aussehen angeht, durchaus Glück gehabt habe. Dafür bin ich auch dankbar. Manchmal höre ich von anderen, die allerdings nicht mein inneres Befinden kennen: ›Hast du es gut!‹ Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, weil es mir grundsätzlich gut geht?« Sabine B., Köln

Ihre Frage ist wirklich einfach zu beantworten: Nein, Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben! Warum auch? Ein schlechtes Gewissen kann man haben, wenn man etwas falsch gemacht hat, etwas hätte besser machen können. Nur wie hätte das bei Ihnen aussehen sollen? Sich frühzeitig mit Ihren Eltern überwerfen, die Ausbildung abbrechen? Oder schon in Jugendtagen mit dem Trinken zu beginnen, um Aussehen und Geistesgaben rechtzeitig zu vermindern?

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Zudem ist nichts unmoralisch daran, dass es einem gut geht; im Gegenteil: Nahezu die gesamte antike Ethik strebte nach »eudaimonia«, dem guten, glücklichen Leben oder der Glückseligkeit. Uneinigkeit herrschte lediglich darüber, worin das Glück nun genau besteht: sich gemäß seiner Fähigkeiten zu betätigen, die Vernunft auszuüben, philosophische Betrachtungen anzustellen oder schlicht Lust zu empfinden.

Interessant finde ich aber Ihren Hinweis, dass Sie dankbar für Ihr günstiges Schicksal sind. Das halte ich für gut und durchaus angebracht, drängt aber die Frage auf, wem Sie dankbar sind oder ob es vielleicht noch um etwas anderes als Dankbarkeit geht. Infrage käme meines Erachtens eine schwierige, eher unmoderne und oft zu Unrecht auf den Glaubenskontext reduzierte Tugend: die Demut. Wahrscheinlich ist es eine Verbindung von beidem. »In der Dankbarkeit liegt Demut«, schreibt der französische Philosoph André Comte-Sponville, allerdings eine fröhliche: »Die Dankbarkeit lehrt, dass es auch eine fröhliche Demut gibt oder eine demütige Freude ...« Man anerkennt, dass man etwas - woher auch immer - bekommen hat und die Freude, die in dieser Anerkennung liegt, ist Dankbarkeit. Vor allem müsse man, meint Comte-Sponville, keine Schuld begleichen: »Das Leben ist keine Schuld: Das Leben ist eine Gnade, das Sein ist eine Gnade, und das ist die höchste Lehre der Dankbarkeit.« Kurz: Freuen Sie sich darüber, dass es Ihnen gut geht, gerade weil das nicht selbstverständlich ist.

Eine andere Frage ist die, was man daraus macht, dass man vom Leben so viel mitbekommen hat. Ich bin der Meinung, man sollte, wenn es einem gut geht, andere daran teilhaben lassen. Aber nicht mit dem Ziel, dass es einem selbst schlechter geht, sondern anderen auch gut. Das kann die Freude am Leben sogar noch steigern.

Literatur:

Andre Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1998

Christoph Horn, Christof Rapp (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, Verlag C.H.Beck, München 2. Auflage 2008. Dort vor allem die Lemmata „eudaimonia“ (bearbeitet von Jan Szaif), hêdonê (bearbeitet von Petra Schmidt-Wiborg), „telos“ (bearbeitet von Christoph Horn)

Christoph Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, Verlag C.H.Beck, München, 2. Auflage 2010

Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich? Verlag C.H.Beck, München 2007, überarbeitete Neuausgabe in der Beck’schen Reihe 2009

Marcus Düwell / Christoph Hübenthal / Micha H. Werner (Hrsg.) Handbuch Ethik, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2002, dort: Christoph Hübenthal, Einleitung zu B. Ansätze Normativer Ethik, B.1 Teleologische Ethik (S. 61-68), Christof Rapp, 4. Aristoteles (S. 69-81), Christoph Hübenthal, 5. Eudaimonismus (S. 82-94)

Illustration: Marc Herold