»Darf man elementar wichtige Entscheidungen – zum Beispiel die Wahl des Studiengangs – auch auslosen oder -würfeln oder ist das unmoralisch, weil unüberlegt und dumm?« Rosanna K., Essen
Es scheint, als würden Sie extreme Gegensätze verknüpfen: elementar wichtige Entscheidungen, die das weitere Schicksal bestimmen, und das fast schon kindische Ziehen von Losen. Nur fällt dabei etwas auf: In beiden Fällen verwendet man das Wort »Los«. Für den Zettel, den man zufällig aus der Trommel zieht, genauso wie für das Schicksal, etwa im Schlusssatz der Schlegel-/Tieckschen Übersetzung von Shakespeares Romeo und Julia: »Denn niemals gab es so ein herbes Los / Als Juliens und ihres Romeos.«
In der Tat kann man das Leben als einzige große Lotterie auffassen. Die mit einer Mehrfachziehung beginnt: Zunächst, welche Erbinformationen bei der sogenannten Reifeteilung in die Ei- und Samenzellen gelangen und dann, welche Samenzelle die Eizelle befruchtet. Niemand hat sich ausgesucht, wie gesund oder krank, mit welchem Aussehen, welcher Intelligenz oder welchem Durchhaltevermögen er oder sie auf die Welt kommt. Auch nicht, in welcher Familie, ob überhaupt in einer Familie, in welchem Land und mit welchen finanziellen Mitteln ausgestattet. Und wenn man das Pech beklagt, das jemand hat, der vom Blitz oder einem herabfallenden Dachziegel erschlagen oder von einem Auto überfahren wird, muss man umgekehrt sehen, dass jeder von uns jeden Tag laufend das Glück hat, nicht gerade dort zu stehen, wo etwas herunterfällt oder ein Fahrer nicht aufpasst. Ähnlich, wenn man an eine lenkende höhere Macht glaubt. Denn dann bestimmt diese Macht nun einmal alles, das weitere Leben ebenso wie die Würfel, die Münze oder das Los. Weshalb etwa Thomas von Aquin das Los als sors consultatoria für zulässig hielt, weil man mit ihm Gott konsultieren, um Rat fragen und dann nach seinem Willen handeln kann.
Nun bin ich in theologischen Gefilden nicht zu Hause und würde für die Bezeichnung »sors consultatoria« gerne eine weltliche praktische Lesart vorschlagen: das Los als Hilfsmittel, das eigene Innere zu konsultieren, zu erkennen, was man wirklich will oder nicht will. Am deutlichsten funktioniert das, wenn das Los anders ausfällt, als man es insgeheim möchte. Und falls es wirklich keinerlei Präferenz gibt, ist die Zufallswahl immer noch besser als die Entscheidung unendlich aufzuschieben. Losen so zu verwenden halte ich für klug; dumm hingegen wäre, sich dann, wenn man es schließlich dank des Loses besser weiß, an das gegenteilige Los gebunden zu fühlen. Oder wie ein kluger englischsprachiger Freund formulierte: »Toss the coin but don’t rely on the answer. (Wirf eine Münze, aber vertraue nicht der Antwort.)«
Quellen:
Los, losen, bearbeitet von Fritz Boehm, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987. Band 5, Sp. 1351-1386
Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung – J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung – Georg Reimer – Karl J. Trüber – Veit & Comp., Berlin und Leipzig
Leander Petzold, Magie. Weltbild – Praktiken – Rituale, Verlag C.H. Beck, München 2011, dort das Kapitel III 3. Los- und Würfelbücher
Thomas von Aquin, Summa theologica, II.2 qu. 95,8
Dank an John Palmer für die prägnante Formulierung mit dem Münzwurf.
Illustration: Serge Bloch