»Ich versuche ein moralisch richtiges Leben zu führen. Dazu gehören für mich Veganismus und das Bemühen, den ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten. Ich fühle mich besser, wenn ich mich so verhalte, frage mich aber manchmal: Liegt meinem Verhalten damit nicht doch ein selbstsüchtiger Antrieb zugrunde, der meiner Zufriedenheit dient und nicht meiner Umwelt?« Hartmut L., Tübingen
Beim ersten Nachdenken könnte man meinen, man sei schon wieder bei der alten Unterscheidung zwischen Handeln aus Neigung und Handeln aus Pflicht. Aber nach Ihrem eigenen Bekunden leben Sie ja nicht vegan, weil Ihnen Gemüse so gut schmeckt, oder verzichten auf Autofahren, weil Sie so gern zu Fuß gehen, sondern weil Sie ein moralisch richtiges Leben führen wollen. Was bedeutet, Sie tun es aus Pflicht im Sinne Kants. Jetzt aber wird es interessant: Sie schreiben, Sie halten sich gern an diese Pflicht, weil Sie sich dann besser fühlen, und meinen nun, indirekt sei das doch wieder selbstsüchtig, weil es aus Neigung geschehe.
Das ist eine Variante des Problems, das man in der Moralphilosophie als »psychologischen Egoismus« kennt. Damit bezeichnet man die Idee, dass auch Motive, die auf den ersten Blick nicht egoistisch erscheinen, auf den zweiten Blick durchaus egoistisch sind oder zumindest sein können. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn man nur deshalb altruistisch oder moralisch richtig handelt, weil man andernfalls Sanktionen fürchtet. Bei klassischen staatlichen oder elterlichen Strafen mag man das noch abgrenzen können, aber sowie es um innerliche oder verinnerlichte Strafen geht, wird es schwierig: Wer Moral für wichtig hält, weil er Angst hat, bei unmoralischem Verhalten geächtet, also aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, hält aus egoistischen Motiven die Moral hoch. Noch komplizierter wird es, wenn man das Gewissen im Sinne Freuds als Über-Ich und damit als verinnerlichte elterliche Instanz ansieht: Wer seinem Gewissen folgt, tut dies nach dieser Interpretation letztlich, um Strafen zu entgehen, nur nennt man die in diesem Fall Gewissensbisse.
Auch wenn man darüber diskutieren kann, halte ich die Betrachtungsweise im Grunde für richtig: Im Endeffekt handelt jemand moralisch, hilft dem Nächsten oder schont die Natur, weil er oder sie es besser findet, das zu tun, als es nicht zu tun. Damit agiert er letztlich wieder aus Motiven, die in ihm oder ihr liegen. Nur liegt das meines Erachtens zugleich in der Natur der Sache oder des Menschen – es ist gewissermaßen ein Konstruktionsprinzip, das aber den Wert der objektiv guten Motivation nicht schmälert. Im Gegenteil: Es zeigt, dass Sie nicht nur moralisch handeln, sondern dass auch Ihre Grundeinstellungen moralisch sind.
Quellen:
Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2. Auflage 2007. Dort Kapitel 7. Moralische Motivation und moralischer Wert, insbesondere ab 7.6 Die Herausforderungen des psychologischen Egoismus, S. 312ff.
Bernard Williams, Egoismus und Altruismus, in: Bernard Williams, Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956-1972, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Reclam Verlag Stuttgart 1978, S. 398-423
Robert Shaver, "Egoism", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2010 Edition), Edward N. Zalta (ed.)
Online abrufbar hier
Stephen Stich, John M. Doris, Erica Roedder, "Altruism," in John M. Doris (ed.), The Moral Psychology Handbook, New York: Oxford 2010, S. 147-205
Elliott Sober, What is psychological egoism. In: The blackwell guide to ethical theory. Blackwell, Malden, MA, 2000, S. 129-148.
Zum Unterschied zwischen Handeln aus Pflicht und pflichtgemäßen Handeln die bekannte Stelle in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 397
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Illustration: Serge Bloch