»Ein Buch, auf das ich für meine Diplomarbeit angewiesen bin, ist in der Unibibliothek sehr begehrt und stets verliehen. Nachdem ich es ergattern konnte, lief seine Nutzungszeit aus. Eine Verlängerung oder Vormerkung ist nicht möglich. Nach der Rückgabe des Buchs wartete ich vor dessen Standort, und als es wenige Minuten später zurückgestellt wurde, konnte ich es erneut entleihen. Ist das in Ordnung?« Andreas S., Göttingen
Rein formal haben Sie völlig richtig gehandelt und sich nichts vorzuwerfen. Allerdings beschleicht Sie, wie Ihre Frage zeigt, selbst schon das Gefühl, dass es damit nicht sein Bewenden hat. Sinn der begrenzten Nutzungsfrist ist sicherzustellen, dass möglichst viele die Chance haben, ein Buch auszuleihen. Das gilt umso mehr, wenn es sich um eines handelt, von dem Sie wissen, dass es sehr begehrt ist. Eigentlich gibt es die Regelung sogar genau für diesen Fall. Und sie ist auch nicht willkürlich oder ungerecht, sondern erscheint sinnvoll. Es kann daher nicht richtig sein, sie, wenn schon nicht zu umgehen, so doch faktisch auszuhebeln.
Eine Universitätsbibliothek ist eine Einrichtung mit dem Ziel, Lehrenden und Studierenden den Zugang zu Büchern, die man sich nicht leisten kann, oder die zu kaufen nicht sinnvoll ist, zu ermöglichen. Es sollte sich also – wie bei jeder Gemeinschaftseinrichtung – jeder Nutzer nicht nur nach den Regeln, sondern so verhalten, dass ihr Ziel erreicht werden kann.
Sie müssen sich vorstellen, dass auf dem Buchdeckel groß und rot der Hinweis prangt: »Weil viele Studierende das Buch benötigen, bedeutet eine Ausleihe über die Nutzungsfrist hinaus, dass Sie Ihren Vorteil auf Kosten der anderen erlangen.« Wer ein Buch ausleiht, nutzt ein Gemeingut, das allen zusammen gehört, und daraus entsteht nicht nur die Pflicht, es sorgsam zu behandeln, sondern auch so, dass es möglichst viele nutzen können.
Das mag mühsamer sein, als es zu behalten: Möglichst bald durcharbeiten, sich Notizen machen oder einzelne Seiten kopieren. Eine durch Glück erlangte Position, hier ein begehrtes Buch ausleihen zu können, sollte generell nicht dazu verleiten, zusätzlichen Vorteil aus ihr zu schlagen, sondern den Glücksumstand zu erkennen und verantwortlich damit umzugehen.
Literatur:
Für die gemeinschaftliche Nutzung von Gütern gibt es das alte Modell der Allmende, das in den letzten Jahren auch dank des Wirtschaftsnobelpreises für Elinor Ostrom wieder in den Fokus gerückt ist.
Mit allgemeinen Ausführungen zu Allmende und einem Aufsatz von Elinor Ostrom: Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. Oekom Verlag München, 2009
Elinor Ostrom, Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge University Press, Cambridge 1990
Auf deutsch leider auch antiquarisch nur schwer erhältlich: Die Verfassung der Allmende. Mohr, Tübingen 1999
Thomas Dietz, Elinor Ostrom, Paul C. Stern: The Struggle to Govern the Commons. Science, Vol. 302 (2003) pp. 1907 - 1912
Illustration: Serge Bloch