Die Gewissensfrage

Darf man einen Orgasmus vortäuschen? Immerhin macht man dem Partner doch eine Freude, wenn man ihm zeigt, dass der Sex schön ist.

»Warum soll es falsch sein, in einer Beziehung beim Sex den
Höhepunkt vorzutäuschen? Ich mache meinem Partner doch nur eine Freude, und mir ist es nicht so wichtig. Natürlich wäre es schäbig, irgendwann im Streit zu lästern, dass alles nur Schein war. Aber sonst halte ich es eher für eine liebevolle und partnerschaftserhaltende Maßnahme.« N.N., München

Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge haben 50 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer schon ihren Höhepunkt vorgetäuscht: 61 Prozent durch Geräusche, 55 Prozent körperlich, 18 Prozent verbal. Über die moralischen Aspekte erschien 2012 im International Journal of Applied Philosophy ein Aufsatz des US-Philosophen Stephen Kershnar. Er kommt darin zu dem Schluss, dass das Vorspielen eines Orgasmus zulässig sei, weil es keine Vereinbarung zwischen den Sexualpartnern gebe, in Bezug auf das sexuelle Erleben nicht zu täuschen. Und daneben bestehe auch keine allgemeine Pflicht, das nicht zu tun, denn eine solche Pflicht würde die Eigentumsrechte des Täuschenden an den Körperteilen, mit denen er täuscht, verletzen.
Ich halte Kershnars Argumentation für falsch. Speziell im Rahmen einer Beziehung kann man aus dem wechselseitigen Bestreben, den Partner zum Höhepunkt bringen zu wollen, auf eine unausgesprochene Vereinbarung schließen, darüber nicht zu täuschen. Zudem scheint man sich einig: Studien zufolge wollen über 95 Prozent aller Befragten in dieser Hinsicht nicht getäuscht werden. Und die Eigentumsrechte an meiner Hand berechtigen mich auch nicht dazu, einen anderen zu erwürgen.
Meines Erachtens gibt es deshalb eine Pflicht, den anderen nicht über den Höhepunkt zu täuschen. Dieser Pflicht steht jedoch das Recht des Einzelnen gegenüber, seine Sexualität nach eigenen Vorstellungen auszuleben. Und weil Sexualität etwas sehr Intimes, dem Kern des Menschen Nahestehendes ist, überwiegt dieses Recht gegenüber äußeren Pflichten. Das macht die Täuschung nicht zu einer guten Tat, sondern lediglich vertretbar. Und im Rahmen einer Beziehung mag sie zwar einerseits nett gemeint sein, ist aber andererseits auch unklug: Wie soll der Partner erfahren, was er oder sie vielleicht anders, besser machen soll?

Meistgelesen diese Woche:

Literatur:

Stephen Kershnar, The Morality of Faking Orgasms: Deception in a Dishonest World, International Journal of Applied Philosophy, Volume 26, 2012, Pages 85-104

Charlene L. Muehlenhard, Sheena K. Shippee, Men's and Women's Reports of Pretending Orgasm, The Journal of Sex Research, Volume 47, 2010, Pages 552-567

Hugo M. Mialon, The Economics of Faking Ecstasy, Economic Inquiry, 50, 2009, Pages 277–285

Celia Roberts, Susan Kippax, Catherine Waldby, June Crawford, Faking it: The Story of “Ohh!”, Women's Studies International Forum, Volume 18, 1995, Pages 523–532

Farnaz Kaighobadi, Todd K. Shackelford, Viviana A. Weekes-Shackelford, Do Women Pretend Orgasm to Retain a Mate? Archives of Sexual Behaviour, Volume 41, 2012, Pages 1121–1125

Zum Thema Täuschung und Liebe schrieb die französische Schriftstellerin Marguerite Duras: „Es war der Mann, den ich am meisten betrogen habe, den ich am meisten geliebt habe.“ La Vie matérielle - Marguerite Duras parle à Jérôme Beaujour, auf deutsch: Das tägliche Leben, dt. von Ilma Rakusa; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988

lllustration: Serge Bloch