»In einem Konzert saß ich auf dem Rang seitlich. Neben mir waren Stehplätze. Dort stand eine ältere Frau, für die es nicht so leicht war, die ganze Zeit zu stehen. Ich hatte zeitweise ein schlechtes Gewissen. Andererseits dachte ich mir, dass niemand gezwungen wird, einen Stehplatz zu kaufen. Hätte ich ihr meinen Platz anbieten sollen?« Helmut N., München
»Bitte überlassen Sie Ihren Sitzplatz älteren Mitbürgern«: Diese Aufforderung, die hier alles beantworten könnte, kennt man aus öffentlichen Verkehrsmitteln, aber nicht in Konzertsälen. Hauptgrund dafür dürfte sein, dass man dort nicht nur für das Hören bezahlt – entsprechend zum reinen Transport im Nahverkehr –, sondern für einen speziellen Platz, und zwar umso mehr, je besser der Platz. Es wäre ein wenig widersinnig, die Preise beim Ticketkauf nach der Qualität des Platzes zu staffeln, die Frage, welchen Platz man tatsächlich bekommt, dann aber nach anderen Kriterien zu entscheiden.
Allerdings, auch wenn Sie recht damit haben, dass niemand gezwungen wird, einen Stehplatz zu kaufen, trifft das, was Sie damit aussagen wollen, nicht ganz zu. Es kann nämlich gut sein, dass mancher gern einen Sitzplatz hätte, sich ihn aber nicht leisten kann. Er oder sie wird nicht gezwungen, einen Stehplatz zu kaufen, hat jedoch eventuell keine andere Möglichkeit, außer auf das Konzert zu verzichten. Dann wird es schwierig.
Sie können Ihrer Stehnachbarin nicht ansehen, ob sie bedürftig ist oder schlicht geizig, deshalb muss man auf andere Kriterien ausweichen. Und die scheinen mir relativ einfach: Da steht eine ältere Person, die, für Sie erkennbar, schlecht stehen kann, also in dieser Hinsicht bedürftig ist, während Sie daneben sitzen, also etwas abgeben können. Ich habe meine Zweifel, ob man wirklich verlangen könnte, dass Sie gleich am Anfang aufspringen. Aber sich den Platz zu teilen, also zumindest nach der Pause den Sitzplatz anzubieten, scheint mir in dieser Situation irgendetwas zwischen sinnvoll und geboten. Zumal sich die Frage stellt, ob man das Konzert in dieser Konstellation sonst noch genießen könnte – und ob Ihre Nachbarin das Angebot überhaupt annimmt.
Weiterführende Literatur:
Die Pflicht zur Hilfeleistung findet sich bei Immanuel Kant in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten als eines der vier Beispiele zur Erläuterung der sogenannten Naturgesetzformel des Kategorischen Imperativs: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« (AA IV, S. 421)
»Noch denkt ein vierter, dem es wohl geht, indessen er sieht, daß andere mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl helfen könnte): was gehts mich an? Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas beizutragen! Nun könnte allerdings, wenn eine solche Denkungsart ein allgemeines Naturgesetz würde, das menschliche Geschlecht gar wohl bestehen und ohne Zweifel noch besser, als wenn jedermann von Theilnehmung und Wohlwollen schwatzt, auch sich beeifert, gelegentlich dergleichen auszuüben, dagegen aber auch, wo er nur kann, betrügt, das Recht der Menschen verkauft, oder ihm sonst Abbruch thut. Aber obgleich es möglich ist, daß nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte: so ist es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Princip als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung Bedarf, und wo er durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde.«
(Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, S. 423)
Allerdings sieht Kant ein Problem darin, zu bestimmen, wie weit man das eigene Wohlbefinden aufgeben soll, um das anderer zu fördern (was hier der Fall wäre, wenn die alte Dame zwar stehen kann, es aber für sie ebenso unbequem ist wie für den Fragesteller):
»2. Fremde Glückseligkeit, als Zweck, der zugleich Pflicht ist
a) Physische Wohlfahrt. Das Wohlwollen kann unbegrenzt sein; denn es darf hiebei nichts getan werden. Aber mit dem Wohltun, vornehmlich wenn es nicht aus Zuneigung (Liebe) zu anderen, sondern aus Pflicht, mit Aufopferung und Kränkung mancher Konkupiszenz geschehen soll, geht es schwieriger zu. – Daß diese Wohltätigkeit Pflicht sei, ergibt sich daraus: daß, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfnis, von anderen auch geliebet (in Notfällen geholfen) zu werden, nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für andere machen und diese Maxime niemals anders als bloß durch ihre Qualifikation zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen, andere auch für uns zu Zwecken zu machen, verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist.
Allein ich soll mit einem Teil meiner Wohlfahrt ein Opfer an andere, ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist, und nun ist unmöglich, bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfnis sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß. Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. – Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daß sich die Grenzen davon bestimmt angeben lassen. – Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen.«
(Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band VI, S. 393)
Illustration: Serge Bloch