»Vor ein paar Tagen bin ich im Handy-Adressbuch über den Eintrag meines Großvaters gestolpert, der vor zwei Jahren gestorben ist. Erst wollte ich ihn löschen, fühlte mich dann aber schlecht bei dem Gedanken, ihn so aus meinem Leben zu tilgen. Gibt es eine Pietätsfrist, nach der man die digitalen Spuren eines verstorbenen Menschen löschen darf?« Frank P., Ingolstadt
Ich fände es tatsächlich eigenartig, wenn Sie von der Beerdigung Ihres Großvaters nach Hause gehen und als Erstes seinen Eintrag im Adressbuch löschen würden. Andererseits ist Trauer etwas sehr Individuelles, jeder geht damit in seiner eigenen Weise und Geschwindigkeit um. Das Erkennen des Verlustes, die Anpassung an die neue Situation gehören dabei zu den wichtigen Mechanismen. Starre Fristen hielte ich für schwierig, zumal sie stark von der Nähe und dem Verhältnis zum Verstorbenen abhingen.
Digitale Adressbücher haben den Vorteil, dass sie nicht zu dick werden. Man kann Einträge einfach behalten. Ich sehe das »Stolpern« über solche alten Einträge auch als Gelegenheit zum Innehalten. Zum einen, um sich verstorbener Personen zu erinnern. Vielleicht schon anhand der Adresse, mit der man etwas verbindet, bei den Großeltern häufig eine Kindheitserinnerung. Oder die Telefonnummer erinnert an Telefonate, die man geführt hat. Zum anderen aber um sich klar zu werden, ob man mit der Person noch etwas verbindet, sich noch verbunden fühlt, oder das Verhältnis angesichts des Todes neu definiert hat und deshalb auf den Eintrag verzichten kann oder ihn umgekehrt belassen will.
Falls Sie Sorge haben, dass Sie nur aus falsch verstandener Pietät einen Eintrag behalten, machen Sie ein Gedankenexperiment: Früher hatte man irgendwann ein zu volles, unleserliches oder zerfallendes Adressbuch, das man ersetzen und die Einträge übertragen musste. Bei der Gelegenheit hat man meistens Einträge, zu denen man keine Beziehung mehr hatte, aussortiert. Überlegen Sie, ob Sie den Eintrag in ein neues Buch übertragen würden – oder mit dem alten Buch zuklappen und abschließen würden. Dann können Sie ihn löschen, und das Bild des zugeklappten Buches kann Ihnen dabei auch helfen.
Literatur:
Theresa A. Rando, Trauern: Die Anpassung an den Verlust, in: Joachim Wittkowski (Hrsg.): Sterben, Tod und Trauer, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2003, S. 173-192
Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, zuerst erschienen in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, Bd. 4 (6), 1917, S. 288-301
John S. Stephenson, Death, Grief and Mourning, Free Press, New York 2007
Neil Small, Jeanne Katz, Jennifer Lorna Hockey (Hrsg.), Grief, Mourning and Death Ritual, Open University Press, Buckingham/Philadelphia 2001
Joachim Wittkowski, Trauer, in: Héctor Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2010, S. 192-202
Klaus Feldmann, Tod und Gesellschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2. Auflage 2010
Héctor Wittwer, Philosophie des Todes, Reclam Verlag, Stuttgart 2009
Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier (Hrsg.), Der Tod im Leben, Piper Verlag, München 2004