»Überall, wo es ein Wartezimmer oder Wartestühle gibt, wird man zum Sitzen aufgefordert mit den Worten: ›Sie dürfen noch kurz Platz nehmen.‹ Mir als Kunde oder Patient kommt das immer etwas unangebracht und herablassend vor. Früher hieß es: ›Bitte nehmen Sie doch Platz.‹ Bilde ich mir das nur ein, oder zeigt sich da neuerdings eine gewisse Arroganz?« Josef F., Gräfelfing
Sie sind Opfer eines sprachlichen Unfalls geworden; allerdings aus anderen Gründen, als Sie meinen. Das Problem liegt im Gesicht, englisch face. Und dessen Wahrung. Die Idee geht zurück auf den US-Soziologen Erving Goffman, der feststellte, dass Menschen im Umgang miteinander stets bemüht sind, »ihr Gesicht« – so etwas wie ihren sozialen Wert – »zu wahren«. Die beiden Anthropologen Penelope Brown und Stephen C. Levinson entwickelten auf dieser Grundlage eine psycholinguistische Theorie der Höflichkeit. Sie unterscheiden ein positives Gesicht, ein Bedürfnis nach Anerkennung, und ein negatives Gesicht, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Höflich zu sein, bedeutet in dieser Theorie, sogenannte face-threatening acts, Handlungen, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen, zu vermeiden. Hier geht es um das klassische Problem der Aufforderung, etwas zu tun, die, auch wenn sie mit einem »Bitte« versehen wird, das Gegenüber in seiner Freiheit und Autonomie, dem negativen Gesicht, bedroht. Deshalb wird sie sprachlich verkleidet, oft in eine Frage und manchmal auch unsinnig, weil eben tunlich vermieden wird, ihr eigentliches Ziel zu formulieren. »Können Sie mir das Salz geben?« bedeutet nicht »Sind Sie in der Lage, mir das Salz zu geben?«, sondern »Bitte geben Sie mir das Salz«. Und »Wissen Sie, wie spät es ist?« ist eben keine Frage nach dem Wissen mit der korrekten Antwort »Ja«, sondern eine Bitte, die Zeit mitzuteilen. So ähnlich sehe ich es auch in Ihrem Fall. »Sie dürfen noch kurz Platz nehmen« sollte man nicht wörtlich als anmaßende Erteilung einer Erlaubnis auffassen, sondern als – sprachlich etwas unglücklichen – Versuch, eine direkte Aufforderung, die ja trotz »bitte« etwas von einer Anordnung hat, zu vermeiden. Deshalb liegt darin auch keine Arroganz, sondern im Gegenteil das Streben nach Höflichkeit.
Literatur:
Erving Goffman, Techniken der Imagepflege, in: ders., Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, übersetzt von Renate Bergsträsser und Sabine Bosse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1986, S. 10-53
Das Buch ist zum Thema Höflichkeit insgesamt lesenswert, insbesondere auch das Kapitel „Über Ehrerbietung und Benehmen“, S. 54-105
Penelope Brown and Stephen C. Levinson, Politeness. Some universals in language usage, Cambridge University Press, New York, 1978/1987
Einen sehr schönen Überblick über das Thema bietet – wie immer bei Pinker hervorragend geschrieben – das Kapitel 8 „Spielchen spielen“ in Steven Pinkers Buch Der Stoff aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2014, S. 458-519, insbesondere 466ff.
Pinker nennt in diesem Kapitel Beispiele von Mechanismen, die man in diesem Zusammenhang nutzt. Etwa indem man eine Bitte mit verschiedenen „Formen des Katzbuckelns“, wie er es nennt, begleitet:
„Fragen statt Befehlen: Kannst du mir dein Auto leihen?
Ausdrücken von Pessimismus: Du möchtest mir wahrscheinlich nicht das Fenster zumachen.
Abschwächen des Befehls: Schließ die Tür, falls das geht.
Minimieren der Zumutung: Ich möchte nur ein bisschen Papier ausleihen.
Zögern: Kann ich mir, ähm, dein Fahrrad leihen?
Eingestehen des Übergriffs: Du bist sicher beschäftigt, aber...
Demonstrieren von Widerwillen: Normalerweise würde ich nicht fragen, aber...
Entschuldigen: Es tut mir leid, dich zu stören, aber...
Unpersönliches Formulieren: Rauchen ist nicht gestattet.
Übernehmen einer Verpflichtung: Ich wäre Ihnen ewig dankbar, wenn Sie...“
(Pinker, aaO. S. 469)
Illustration: Serge Bloch