Das Problem: In Deutschland ist die Suizidrate erschreckend hoch.
Die Lösung? Blaues Licht in Bahnhöfen trägt erwiesen dazu bei, Suizidraten dort zu verringern.
Rot ist die Farbe der Liebe, weil sie unser Herz schneller schlagen lässt. Grün macht optimistisch. Die Farbe Blau beruhigt. Das sind Tatsachen, sie sind bewiesen.
Genau deshalb hat Tokio 14 seiner Bahnhöfe mit blauem Licht ausgestattet und zwar ausgerechnet diejenigen mit den höchsten Suizidraten. Mit dem Effekt hatten selbst die Betreiber nicht gerechnet: Die Selbstmordrate in diesen Bahnhöfen sank um 74 Prozent. Als Psychologen die Sache untersuchten und die blauen Bahnhöfe mit 57 umliegenden, normal beleuchteten in den Jahren zwischen 2000 und 2013 verglichen, entdeckten sie erleichtert, dass die Suizidraten in den umliegenden Bahnhöfen durch das Experiment nicht anstiegen – die Menschen wichen offensichtlich nicht einfach auf den nächsten Bahnhof aus. Zwar weiß man natürlich nicht, wie sie sich im Rest der Stadt verhielten, dennoch darf man hoffnen, dass zumindest einige durch das blaue Licht auch langfristig davon abgehalten wurden, dem Impuls nachzugeben. Denn darauf kommt es ja oft in einer Krise an: eine Impulsivhandlung zu verhindern.
Japan, lange eines der Länder mit den höchsten Suizidraten weltweit, hat erfolgreich ein ganzes Maßnahmenpaket zur Hilfe bei Depressionen, Überarbeitung und Isolation umgesetzt. Seither sinken die Suizidraten. Dass blaues Licht in Bahnhöfen alleine keine umfassende Suizidprävention ersetzt, ist klar, aber der Erfolg des Lichts ist doch so enorm, dass Psychologen davon ausgehen, es hätte vielleicht wirklich bei einigen Menschen dauerhaft einen Sinneswandel bewirkt.
Seither versuchen Wissenschaftler herauszufinden, warum das so gut funktioniert. Und ob sich der Effekt in anderen Ländern und anderen Umgebungen wiederholen lässt.
Wer in den letzten Jahren den Zug zum britischen Flughafen Gatwick genommen hat, mag sich über die hellen blauen LED-Flutlichter dort gewundert haben. »Wir haben damit auf die dramatische Zunahme an Suiziden reagiert«, sagt Terry Denver, der bei Network Rail für die Lichter zuständig ist. »Es ist eine extrem traumatische Erfahrung für die Menschen, ihre Angehörigen, aber auch für die Bahnangestellten.«
Im japanischen Nara kopierten die Stadtplaner das Modell ihrer Bahnkollegen, statteten ganze Straßenzüge mit Blaulicht aus und stellten dann fest, dass die Kriminalitätsrate um neun Prozent sank. Das schottische Glasgow machte das Projekt nach und verzeichnete ebenfalls einen deutlichen Rückgang an Straßenkriminalität.
Aber warum klappt dieser einfache Trick bei so ernsten Problemen?
Steve Westland, Professor für Lichtwissenschaft und -technik an der University of Leeds, hat seinen Doktoranden Nicholas Ciccone drei Jahre lang mit genau dieser Frage experimentieren lassen und den Einfluss von blauem Licht auf die Impulsivität untersucht. Die University of Leeds hat extra ein Lichtlabor eingerichtet, um den Effekt von Licht auf menschliches Verhalten zu evaluieren. Das System ist in Großbritannien einzigartig, weil es den ganzen Raum mit dem farbigen Licht einer spezifischen Wellenlänge fluten kann; Licht enthält normalerweise eine Mischung aus Rot, Grün und Blau.
So konnten Westland und seine Kollegen eindeutig beweisen, dass Rot tatsächlich unser Herz schneller schlagen lässt und blau den Blutdruck beruhigt. Eine australische Studie kam zu demselben Ergebnis.
Westland erklärt, dass wir erst seit etwa 15 Jahren den Mechanismus kennen, durch den Farben unseren Gemütszustand beeinflussen: »Das Auge enthält nicht nur lichtempfindliche Zellen in unserer Retina, die elektrochemische Signale an den visuellen Kortex in unserem Gehirn senden, sondern auch Ganglienzellen, die Signale an den Hypothalamus schicken, also das wichtigste Steuerzentrum unseres vegetativen Nervensystems. Der Hypothalamus antwortet darauf mit der Bildung von Hormonen, die unseren Schlaf, Hunger oder die Körpertemperatur regulieren.«
Es gibt also einen klaren Mechanismus, weshalb Farbe und Licht unsere Stimmung, unseren Blutdruck oder unsere Impulsivität beeinflussen. Westland erzählt von Gefängnissen in der Schweiz und in Amerika, die mit leuchtend rosa gestrichenen Wänden, dem »Cool Down Pink«, die Aggressivität der Insassen signifikant senkten. Psychologen beobachten, die Insassen beruhigten sich innerhalb von 15 Minuten. »Die Farbe reduzierte nachweislich ihre körperliche Kraft«, erklärt Westland.
»Wir wissen, dass es funktioniert. Aber ehrlich gesagt verstehen wir nicht, warum der Effekt auf potenzielle Selbstmörder oder die Kriminalitätsrate so groß ist«, gibt Westland zu und man merkt ihm an, wie sehr ihn das als Wissenschaftler wurmt. »Der Effekt im Labor ist da, aber sehr klein.« Genau das macht das Projekt für ihn so spannend: »Das ist manchmal einfach so, dass man zuerst nachweist, dass etwas in der Praxis funktioniert, aber erst später herausfindet, warum.« Ist es eine spezifische Wellenlänge, die das Licht effektiv macht? Würde auch eine andere Farbe helfen? Erinnert das Blaulicht die Menschen auf den Straßen von Glasgow und Nara möglicherweise an Polizeilicht und hält sie deshalb vom Randalieren ab? Oder müssen wir nun alle Bahnhöfe pink streichen?
Was fehlt? Auch in Deutschland sind die Suizid-Raten erschreckend hoch – zwar nicht ganz so hoch wie in Japan, aber jedes Jahr nehmen sich hier mehr als 10.000 Menschen das Leben. (Wenn Sie oder jemand, den Sie kennen, gefährdet sind, wenden Sie sich bitte dringend an die Telefon-Seelsorge unter den Nummern 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222.)
Das Blaulicht kann nur ein kleiner Beitrag zu einer umfassenden Suizidprävention sein. Aber schon wenn nur ein Mensch durch diesen Trick davon abgehalten würde, seine Pläne umzusetzen, hätte sich das blaue Licht gelohnt. Und ganz nebenbei würde es wirklich nicht schaden, wenn unsere grauen Wände bunter würden, vielleicht so bunt wie die azurblauen Wände der »blauen Stadt« Chefchaouen in Marokko oder die bonbonfarbenen Fassaden von Positano an der Amalfi-Küste. Da braucht es keinen Psychologen, um zu erkennen, dass die Farbenpracht die Stimmung hebt.
Foto: dpa