Das Problem: Jede zweite Frau berichtet, sie sei sexuell belästigt worden, aber nur ein Bruchteil der Übergriffe wird angezeigt und juristisch verfolgt.
Die Lösung: Die Gründerin der #MeToo-Bewegung setzt auf »Restorative Justice« und Hilfe für die Heilung der Opfer.
Als die Erfinderin von #MeToo in San Francisco auf die Bühne tritt, kann sie ihre Enttäuschung darüber, wohin die Debatte gesteuert ist, kaum verbergen. Denn Burke begann #MeToo nicht als Hashtag. »Wenn du #MeToo googelst, findest du bestimmt 20 Artikel darüber, wie die MeToo Bewegung gescheitert ist«, sagt Tarana Burke, 45, auf der »Wisdom 2.0 Konferenz« und will klarstellen, was #MeToo nicht ist: »Es geht definitiv nicht darum, mächtige Männer abzuschießen.«
Sondern: »Als [die Schauspielerin] Alyssa Milano mit #MeToo eine Lawine lostrat, verband sie anfangs damit keine Forderung - außer, Menschen dazu zu ermutigen, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Die Frauen versuchten einfach, einen Raum zu finden, in dem sie ihre Wahrheit aussprechen konnten. Sie versuchten, gehört zu werden und hofften, dass ihnen geglaubt wird.« Denn das, sagt Burke, kenne sie aus eigener Erfahrung: »Wenn einem etwas so traumatisches passiert wie sexuelle Gewalt, dann verschließt man sich. Man wird von Schamgefühlen überwältigt. Wenn dann jemand sagt: Du bist damit nicht allein, befreit einen das. Und wenn jemand nicht bereit ist, seine Geschichte zu erzählen, kann man einfach nur sagen: Me too, ich auch. Das ist wirkungsvoll, und sanft. Man muss nicht alle Details erzählen.«
Die hüftlangen Haare in unzähligen kleinen Zöpfen zurückgebunden, in ein weites, wallendes, grauweißes Kleid gehüllt, wirkt Tarana Burke in sich ruhend. Sie hat nie erzählt, was genau ihr widerfahren ist. Nur, dass sie selbst als Teenager sexualisierte Gewalt erlebt hat. Aber sie erzählt gerne, wo ihre Geschichte begonnen hat: in New York, in der Bronx. Da ist sie aufgewachsen, aber der Ursprung der Worte #MeToo beginnt im tiefsten Süden Amerikas, in Selma, Alabama. Dahin zog sie als vierzehnjähriger Teenager und begann, sich in der Gemeindearbeit zu engagieren, mit Leuten, die schon zu Martin Luther Kings Zeiten für Bürgerrechte und Menschenrechte gekämpft hatten.
Das ist wichtig zu wissen: #MeToo begann nicht in Hollywood oder Washington, mit den Weinsteins und Trumps, sondern in einer Stadt voll Gewalt, Ausgrenzung und Armut. Selma, Alabama, kennt jeder als ärmste Stadt Alabamas; als die Stadt, die regelmäßig die Top Ten der gewalttätigsten Städte Amerikas anführt, und natürlich als die Stadt, in der die Schwarzen noch bis in die Sechzigerjahre getrennt von den Weißen essen und lernen mussten, bis sie mit dem »Bloody Sunday« ihrer Forderung nach Gleichberechtigung Nachdruck verliehen.
»Als Community Organizer wurde uns beigebracht, die Leute da abzuholen, wo sie sind, und ihnen erst einmal das zum Überleben Nötige zu verschaffen, also Essen, Kleidung und Unterkunft.« Aber langsam sei ihr klar geworden, sagt Burke, dass es vielleicht noch ein fundamentaleres Recht gebe: das Recht auf Unversehrtheit. »Ich habe selbst sexuelle Gewalt erlebt«, sagt Burke, »aber darüber wurde nie gesprochen. Jeder sah ganz klar, dass das in unserer Gemeinschaft passierte, aber es wurde nie thematisiert.« Ein Schlüsselerlebnis war, als sich ihr die 14 Jahre junge Heaven anvertraute: Ihr Stiefvater hatte sie missbraucht. »Ich war selbst noch so jung«, erinnert sich Tarana Burke. »Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte, und alles, was ich dachte, war: Mir ist sowas auch passiert. Me Too. Ich höre dich, ich sehe dich, und ich glaube dir. Ach, wenn ich ihr das damals nur hätte sagen können!«
Die Begegnung mit Heaven machte einen nachhaltigen Eindruck auf sie, aber es dauerte mehr als zehn Jahre, bis sie ihre Gefühle 2005 in Worte fassen konnte: »Die Idee war: Empowerment durch Empathie. Ich bin keine Sozialarbeiterin, habe kein formales Training, aber ich habe Erfahrung. Und ich dachte mir, dass es doch etwas zu bedeuten hat, dass ich selbst mit diesem Trauma gelebt habe, mit der Realität, dass ich die Entscheidungskraft über meinen Körper verloren hatte. Und ich überlegte: Was hätte die Dinge damals für mich verändert, als ich 14 war? Was hätte jemand zu mir sagen können, das mir geholfen hätte?« Die Antwort: #MeToo. »Das merkwürdige an sexualisierter Gewalt ist, dass sie alle Schichten der Gesellschaft durchdringt und trotzdem so isoliert. Jede denkt, sie sei die einzige, und dass es anderen Leuten nicht passiert oder dass unsere Erfahrung anders ist. Deshalb hat es so viel Kraft, wenn man diese Erfahrung mit jemand anderem teilen kann. Niemand will die erste sein, die diesen Schritt macht. Also lautet die Unterzeile: Du bist nicht alleine, es ist eine Bewegung.«
Burke erzählt entwaffnend ehrlich, wie sie in Panik verfiel, als der zehn Jahre alte Slogan #MeToo im letzten Herbst plötzlich millionenfach geteilt wurde. Ihre 20 Jahre alte Tochter musste ihr helfen, sich auf Twitter zurecht zu finden. Bis nachts um zwei Uhr scrollte sie am 15. Oktober letzten Jahres durch die unzähligen Meldungen. »Ich hatte Angst, dass meine Arbeit ausgelöscht wird, denn das ist ja die Erfahrung vieler schwarzer Frauen. Aber dann las ich den Erfahrungsbericht einer Frau, die einen Link zu ihrer Geschichte gepostet hatte, und plötzlich wurde mir klar: Meine Arbeit passiert genau hier vor meinen Augen.« Burke wundert sich darüber, wie die Öffentlichkeit, vor allem die Medien, die Bewegung interpretiert haben. »Müssen wir wirklich darüber diskutieren, ob man sich noch umarmen darf?«, fragt sie mit einem ironischen Glucksen.
Burke war auf dem Cover von Time, wurde gemeinsam mit anderen Feministinnen als Persönlichkeiten des Jahres geehrt, war auf Einladung von Michelle Williams bei den Golden Globes und jetzt auch bei den Oscars. Sie weiß, dass sie diese Plattformen nutzen muss, dass sie die Chance hat, nun plötzlich - wie in San Francisco - vor Tausenden von Menschen zu sprechen statt wie früher vor wenigen Gleichgesinnten. »Die plötzliche Berühmtheit dient mir nur dazu, diese Arbeit voran zu bringen. Wir müssen darüber reden, wer die Agenda vorantreibt.«
Dass Kevin Spaceys Stern am Walk of Fame diskret überklebt wurde, ist ihr ziemlich egal. »Dass Menschen gefeuert wurden, ist die Reaktion von Firmen und den Medien. Den Frauen mag das Recht sein, aber der Bewegung geht es um genau zwei Dinge: Überlebende von sexualisierter Gewalt zu unterstützen und sicherzustellen, dass sie Ressourcen für ihren Heilungsprozess haben.« Burke hat sehr genaue Vorstellungen, was MeToo bewirken soll. »Ich habe eine Vision, wie die Zukunft von MeToo aussehen kann: es geht darum, die Opfer von sexualisierter Gewalt zu unterstützen. Wir müssen vor allem sicherstellen, dass die am wenigsten privilegierten Opfer Ressourcen für ihren Heilungsprozess haben. Wir müssen sicherstellen, dass die Opfer im Zentrum stehen.«
Tarana Burke ist im Hauptberuf Direktorin der Organisation Girls for Gender Equity. »Wir leben in einer Gesellschaft, in der rape culture überall ist, eine Gesellschaft, die verlernt hat, die menschliche Würde zu respektieren. Ein Mensch wie Harvey Weinstein existiert nicht in einem Vakuum. Da gab es Menschen, denen es weniger wichtig war, dass er Frauen angriff, sondern dass er ihnen Millionen und Abermillionen von Dollar bescherte.«
Burke erzählt, sie bekomme Tausende von Emails »von Menschen, die Hilfe brauchen. Darauf sollten wir uns konzentrieren: auf Ressourcen für Menschen, die nach Heilung suchen. Was können wir in unserer Gemeinschaft tun, damit unsere Gemeinschaften sichere Orte sind, in denen sich Menschen geschützt fühlen? Alle anderen Fragen lenken nur vom eigentlichen ab.«
Zu den aktuellen Fällen prominenter Grabscher und Vergewaltiger will sie keine Stellung nehmen: »Es ist nicht meine Aufgabe, die Menschen ins Kreuzverhör zu nehmen, die sich aus der Deckung wagen. Sexualisierte Gewalt geschieht auf einem Spektrum, also muss auch Rechenschaft auf einem Spektrum passieren. Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand.«
Dass die Hollywood-Intiative »Time's Up« von Prominenten wie Reese Witherspoon und Ashley Judd inzwischen 21 Millionen Dollar eingesammelt hat, um Frauen finanziell zu unterstützen, die zum Beispiel juristisch gegen sexualisierte Gewalt vorgehen wollen, begrüßt Burke zwar, aber ihr Fokus liegt woanders: auf den Menschen am Rande der Gesellschaft, die eben nicht auf Hollywoods Bühnen stehen, »den schwarzen und braunen Mädchen, den Transgender-Leuten, Behinderten, den Ureinwohnern, die die höchsten Raten von sexualisierter Gewalt in diesem Land erleben. Eines der ersten Dinge, die wir machen, ist, Frauen eine Sprache zu geben, damit sie darüber reden können.« Burke baut gerade ein Team auf und ein umfassendes Informationspaket für Hilfesuchende. »Wir werden einen Plan vorschlagen für Menschen, Heilungsrunden zu bilden und in vor Ort aktiv zu werden.«
Sie setzt besonders auf »Restorative Justice«, also ein flexibles Modell, in dem Opfer und Täter zu einem Ausgleich kommen. Für »Restorative Justice« gibt es im Deutschen keinen guten Begriff – wichtig ist, dass die Opfer und ihre Anliegen im Mittelpunkt stehen und die Strukturen verändert werden, die die Gewalt erst ermöglichten. »Wie sieht Gerechtigkeit aus der Perspektive der Überlebenden aus?« fragt Burke. »Der normale Prozess ist, dass man zur örtlichen Polizeiwache geht und Anzeige erstattet. Aber wenn man am Rande der Gesellschaft lebt, traut man der Polizei nicht, weil man bereits Ungerechtigkeit und Gewalt durch die Polizei erfahren hat. Also rede ich über restorative und transformative Gerechtigkeit. Außerdem sind viele Täter selbst Überlebende sexualisierter Gewalt. Das macht den Prozess ungemein kompliziert. Wir brauchen ein klares Verständnis davon, was Gerechtigkeit ist und was Menschen brauchen. Dazu gehört auch, die Täter in den Heilungsprozess miteinzubeziehen, sonst wird es nur ein nicht endender Kreislauf.« Oder: »#MeToo ist ein Austausch zwischen Überlebenden. Was soll es denn sonst sein? Zu wem sollte ich sonst #MeToo sagen?«
Foto: Reuters