Der Roggen, der da vor dem Dottenfelder Hof in Bad Vilbel reift, sieht auf den ersten Blick aus wie jeder andere Roggen: die vollen Getreidehalme wiegen sich im Abendwind, bald bereit zu Ernte. Und trotzdem ist der Roggen der erste seiner Art: Er heisst Baldachin und ist der einzige Roggen, der in Deutschland mit Hilfe von Crowdfunding gezüchtet wurde. Er ist ein sogenannter »Open Source«-Roggen, also ein Roggen, der allen gehört. Vielleicht ist er bald in dem Sauerteigbrot, dass man bei Le Brot in Berlin-Neukölln oder beim Märkischen Landbrot kaufen kann, denn diese Bäckereien machen bei der Open-Source-Initiative mit.
Open-Source-Software kennt inzwischen fast jeder. Es gibt Open-Source-Bier, Open-Source-Pharma-Forschung und eben Open-Source-Getreide, -Salat und -Gemüse. Das Prinzip ist überall dasselbe: Dieses Gut hat jemand entwickelt und stellt es nun der Allgemeinheit zur Verfügung. Wenn wir uns in der Bäckerei unser Brot kaufen, wissen vermutlich die wenigstens von uns, dass die meisten Getreidesorten geschützt sind, in der EU vom sogenannten Saatgut-Gesetz, in Amerika sind gar die meisten patentiert. Das heißt, den meisten Bauern, die Saatgut kaufen, gehört die Saat eigentlich nicht. Sie dürfen es zwar aussäen, aber nicht selbst weiter züchten, ohne dafür zu zahlen. Im nächsten Jahr müssen sie das Saatgut wieder neu kaufen. »Das Neueste ist, dass sie es nur noch mieten dürfen«, sagt Jack Kloppenburg, Mitgründer der Open-Source-Initiative in den USA und emeritierter Professor an der Universität von Wisconsin. Ähnlich wie auf dem Software-Markt, den einige wenige Giganten wie Microsoft und Apple dominieren, ist auch der Saatgut-Handel weltweit in der Hand von vier großen Monopolisten. Bayer (Monsanto), Corteva (DuPont) und ChemChina (Syngenta) sind die bekanntesten.
Vier Konzerne dominieren den Handel
Laut einer Oxfam-Studie von 2012 beherrschten schon damals vier multinationale Konzerne 60 Prozent des weltweiten Handels mit Getreidesaatgut – und die Zentralisierung ist seither eher noch weiter fortgeschritten. Das Problem dabei? Monokulturen und Entmachtung der Bauern. »Diese Sorten sind primär auf größtmöglichen Ertrag ausgerichtet«, sagt Johannes Kotschi, Gründer von Open Source Seeds (OSS) in Deutschland. »Die Marktkonzentration ist deshalb problematisch, weil massentaugliche, ertragsstarke Sorten für den kaufkräftigen Landwirtschaftssektor gezüchtet werden, und damit werden Kleinbauern ausgegrenzt, weil die diese Sorten nicht bezahlen können und diese Sorten für sie meist auch nicht geeignet sind.« Ganz zu schweigen von der dringend benötigten Biodiversität. »Solche Saatgut-Monopole entscheiden auch, was bei uns auf den Teller kommt«, heisst es auf der OSS-Webseite. »Sie erzielen ihre Gewinne mit wenigen Hochleistungssorten. Der freie Zugang zu Zuchtmaterial wird immer weiter eingeschränkt und die Landwirtschaft wird zunehmend einheitlicher. Die ehemalige Sorten- und Geschmacksvielfalt geht mehr und mehr verloren.«
Deshalb hat OSS einen Gegenentwurf vorgelegt: Mehr als 100 Sorten sind inzwischen von der OSS-Lizenz geschützt, von der gelben Cocktail-Tomate »Sunviva« bis zum Winterweizen »Nudelwunder«, von der Kartoffel »Freeka« bis zum Mais »Lisanco«. In den USA, bei der Schwesternorganisation OSSI, sind es knapp 500 Sorten, alle unter dem Slogan: »Einmal Gemeingut, immer Gemeingut«.
Das Prinzip stammt eigentlich aus der Informatik. Kotschi war vor mehr als einem Jahrzehnt auf die Publikationen der Commons-Forscherin Silke Helfrich gestoßen. »Da dachte ich spontan: Sowas müssen wir auch für Saatgut machen«, erinnert sich Kotschi.
Wie Züchter mit geschickten Patentanmeldungen bestohlen werden
Wer eine Packung mit OSS-Saatgut aufreißt, verpflichtet sich damit, diese Saat und eventuelle Weiterzüchtungen nie zu patentieren. Jeder darf sie weiterentwickeln – unter der Voraussetzung, die Weiterentwicklungen ebenfalls nicht zu patentieren oder unter Sortenschutz zu stellen. Bevor es OSS und OSSI gab, war es nicht möglich, Saatgut als Gemeingut zu schützen. Verzichteten gemeinnützige Züchter auf Sortenschutz und stellten ihre neuen Sorten ohne Einschränkung allen zur Verfügung, gingen sie das Risiko ein, dass andere daraus ein privates Gut machen. So geschehen beim Pflanzenzüchter Jim Baggett in Oregon: Der hatte1966 einen besonders langhalsigen Brokkoli gezüchtet, der sich leichter ernten ließ. Er teilte den neuartigen Brokkoli großzügig mit Forschern und Züchtern – bis der Monsanto-Ableger Seminis 2011 einen ganz ähnlichen Brokkoli mit genau diesen Eigenschaften patentierte, obwohl mehr als ein Drittel des Pflanzenmaterials auf Baggett zurückging.
Auch Irwin Goldmann erlebte Ähnliches, Professor an der Universität von Wisconsin, der eine besonders rote Karotte entwickelte – bis er 2013 erfuhr, dass Seminis ein Patent für eine besonders rote Karotte beantragt hatte. Oder Frank Morton, ein unabhängiger Pflanzenzüchter in Oregon, der einen roten Salat züchtete – und dann herausfand, dass eine holländische Samenfirma das Patent dafür erhielt. Konkret bedeutet die Übermacht der Monopolisten für die kleinen Züchter, dass die großen Firmen wie Monsanto die kleinen verklagen können – auch wenn die kleinen ihre eigenen Salatköpfe und roten Rüben entwickelten.
Deshalb gründete Jack Kloppenburg mit einigen Gleichgesinnten OSSI 2012 in den USA, etwa zur gleichen Zeit, in der Kotschi anfing, sich in Deutschland mit der Idee auseinanderzusetzen. Inzwischen gibt es solche Saatgut-Initiativen in zwölf Ländern, in Argentinien, Thailand, Kenia und Italien zum Beispiel. »Die Monopolisten züchten das, was am meisten Geld bringt«, sagt Kloppenburg. »Biodiversität und Hunger sind ihnen egal. Es wird soviel patentiert, dass keiner mehr hinterher kommt.« Leidenschaftliche Gartenbauer wie Kloppenburg schwärmen von dem Kürbis und den Tomaten in ihrem Garten, die als lokale Sorten einzigartig sind. So, sagen sie, sei es bis vor hundert Jahren auch noch gewesen: Bauern und Saatgutzüchter arbeiteten gemeinsam daran, Sorten zu züchten, die sich unter den lokalen Bedingungen gut behaupteten. Die Bauern behielten einen Teil der Ernte als Saatgut ein und streuten es dann im nächsten Frühjahr wieder aus. Für Saatgutzüchter war dieses Modell allerdings nicht lukrativ, sie verdienten nur einmal – und nicht Jahr für Jahr erneut an den selben Bauern.
»Wir finden, dass die Aufgabe der ökologischen Züchtung über die Entwicklung immer besserer Cash-Crops hinausgehen muss und sich auch für die ökologische Züchtung von Nischensorten und den Erhalt genetischer Ressourcen einsetzen muss«, sagt Getreidezüchterin Kathrin Neubeck von der Landbauschule Dottenfelderhof in Bad Vilbel. »Der Vorteil: Das Saatgut bleibt frei für alle verfügbar und zusätzlich ergeben sich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Vermarktung.« Ein Nachteil ist für sie die Finanzierung, weil Lizenzgebühren wegfallen.
»Cannabis wird ein Milliardenmarkt«
Johannes Kotschi, Gründer von Open Source Seeds
Johannes Kotschi, der OSS-Gründer, hat seine ersten Erfahrungen im Umgang mit Open-Source-Getreide in der Entwicklungshilfe gemacht. Er hat Landwirtschaft studiert und über ökologische Landwirtschaft promoviert, ging dann aber als Entwicklungshelfer nach Afrika. Die Auswirkungen der Saatmonopole auf die Kleinbauern im globalen Süden liegen ihm besonders am Herzen. Gerade arbeitet er mit Bauern in Kenia daran, die Open-Source-Strategie einzuführen. »Die Bauern dort fühlen sich zunehmen bedroht von staatlichen Forschungsorganisationen, die einfach ihr bäuerliches Material nehmen, das verändern, registrieren und dann als registrierte Sorte wieder den Bauern verkaufen«, erzählt Kotschi via Zoom aus Marburg. »Ein klassisches Beispiel von Biopiraterie.« Mit der Open-Source-Strategie will Kotschi das verhindern helfen – und die Stellung der Bauern verbessern, die dann ihr eigenes Saatgut weiterentwickeln können.
Im nordamerikanischen Raum wiederum sind besonders die Cannabis-Züchter an der Strategie interessiert. »Cannabis wird ein Milliardenmarkt«, sagt Kotschi. »Die kleinen Züchter der Alternativszene fürchten natürlich um ihre Sorten. Die nutzen jetzt eine Open-Source-Lizenz, nicht unsere, sondern eine, die den dortigen Verhältnissen angepasst wurde.« Ähnlich wie im Vergleich nur wenige Computernutzer Open-Source-Software nutzen, ist auch der Marktanteil von gemeinnützigem Saatgut sehr gering – aber spielt dennoch mehr als eine Nebenrolle. »Es ist halt ein sehr zartes Pflänzchen«, sagt Kotschi, um im landwirtschaftlichen Bild zu bleiben. Aber eines, das noch zu einem imposanten Baum wachsen könnte.