Jetzt bitte alle kollektiv aufatmen: Deutschland ist Weltmeister! Nein, nicht im Fußball, aber während alle Welt auf Toni Kroos Beine starrte, übersahen die meisten, dass wir schon Weltmeister sind, und zwar gewann der Deutsche Sven Rooch den letzten Profikampf in einer Sportart, die mehr Hirn und Nasenbeinbrüche verlangt als die letzte Partie gegen Schweden: Schachboxen. Schach was?
Nein, nicht Schattenboxen, ich sagte: Schach, das Brett mit den schwarzen und weißen Figuren.
Das geht so: Drei Minuten Schnell-Schach, drei Minuten Boxen, fünf Mal im Wechsel mit nur 60 Sekunden Pause dazwischen plus eine Finalrunde Schach. Diese Woche beginnen die Amateur-Weltmeisterschaften in Kalkutta. Wer gewinnt, erledigt seinen Gegner entweder per Knockout oder Schachmatt. Im Zweifel zählen die meisten Treffer im Boxen. Take the king or win in the ring.
Das mag auf den ersten Blick bescheuert klingen, so wie Ziegen-Yoga oder Eis-Tennis (Tennis auf Schlittschuhen), ist tatsächlich aber eine Idee mit durchschlagender Wirkung.
»Mich interessiert die Herausforderung«, sagt die dreifache indische Goldmedaillen-Gewinnerin Richa Sharma. »In der ersten Runde konzentriert man sich auf Schach, aber dann heizt sich der Körper beim Boxen auf, das Adrenalin pumpt, und es ist schwer, sich den nächsten Zug zu überlegen.«
Richa Sharma wirkt nicht so, als müsse man sich vor ihr fürchten: Die 26 Jahre alte indische Computer-Ingenieurin aus Kalkutta ist nur 1,62 Meter groß und wiegt 54 Kilo. Wer sich aber ihr letztes Finale im Schachboxen anschaut, muss erschüttert zugeben: Diese eher zierliche Frau mit den hüftlangen schwarzen Locken hat nicht nur Hirn, sondern auch eine Hammer-Rechte.
Wie Biathlon ja auch lebt der Sport vom Gegensatz zwischen Kraft und Konzentration: Spätestens nach der ersten Runde Boxkampf pumpt der Atem, und mit dem von den Schlägen lädierten Hirn muss man jetzt auch noch Bauer und König taktisch geschickt rangieren. Wie bei fast allen Sportarten gewinnt auch beim Boxen mindestens zur Hälfte der Kopf. Erfunden hat die Sportart ausgerechnet ein niederländischer Aktionskünstler, der in Berlin lebt und vorher unter anderem damit Schlagzeilen machte, dass er in Berlin und Tokio große Straßenkreuzungen blockierte und damit massive Staus auslöste: Iepe Rubingh. »Das Allerschönste ist wirklich die Konzentration«, sagt der leidenschaftliche Schachboxer Rubingh. »Man hat nach der Boxrunde einen Puls von 140. Wir haben mal einen Profiboxer gemessen, der kommt unter 100 in einer Minute, aber das schaffen die wenigsten. Ich habe schon selber so viele Fehler gemacht am Brett.«
Bei genauer Betrachtung ist die Kombi gar nicht so absurd, schließlich braucht man für beide Sportarten vor allem: richtig gute Taktik und Technik. »Das ist auch eine Fähigkeit, die in der Gesellschaft wichtig ist: die Selbstbeherrschung, ein gesundes Mass an Ehrgeiz und Demut«, schwärmt Rubingh. »Das Boxen hat genau diese Kraft, die Aggression, diese Ur-Energie, aber wenn sie den Counterpart, die Kontrolle nicht, hat, dann ist sie eher zerstörerisch.« Und der Sport »durchbricht die Vorurteile vom Schachspieler als Hirnie auf Nerd Patrol und dem Kämpfer als hirnlosen Neanderthaler.«
Er erfand die Sportart 2003, angeregt von Enki Bilals Comic Buch Froid Equateur, gewann den allerersten Kampf gegen einen Freund vor 1000 Zuschauern in Amsterdam und hat vielleicht selbst nicht damit gerechnet, dass er 15 Jahre später der World Chess Boxing Organisation vorstehen würde. Noch überraschender ist aber, dass die Sportart ausgerechnet in Asien Frauen zu ungeahnten Aufstiegsmöglichkeiten verhilft.
Während Deutschland zwar als Wiege des Schachboxens gilt und Berlin den ältesten Schachbox-Club der Welt beherbergt, ist es hier ein reiner Männersport. »Fünf Prozent der Menschen, die Fußball spielen, sind Frauen«, weiß Rubingh. »Es gibt nur zwei Sportarten, wo weniger Frauen vertreten sind, nämlich Schach und Boxen.« Er hofft zwar, »dass wir das umdrehen können, denn das Image hat ja auch eine spannende Komponente: Smart, aber mit einer gewissen Toughness; zuschlagen können, aber auch was im Kopf haben.« Aber in Deutschland kann Rubingh den Frauenanteil ganz genau beziffern: Es gibt nur eine einzige Schachboxerin. Alina Rath, die Schachtrainerin im Chess Boxing Club Berlin, wartet darauf, dass sie eine Gegnerin findet.
Ausgerechnet in Indien dagegen sind von den mehr als 1200 Mitgliedern erstaunlicherweise fast 40 Prozent Frauen. Der indische Schachbox-Präsident, Montu Das, hat extra eine Frauenbeauftragte engagiert, weil er meinte, der Kampfsport könne ein wichtiges Element dafür sein, gerade jungen Frauen aus den unteren Schichten zu neuem Selbstbewusstsein, aber auch konkreten Karriere-Chancen zu verhelfen. In einem Land, in dem immer noch viele Eltern ihre Mädchen aus der Schule nehmen, wenn sie ihre Periode haben, oder sie im Kindesalter verheiraten, ist eine ungewöhnliche Sportart vielleicht die wirkungsvolle Rochade, um alte Rollenbilder schachmatt zu setzen.
Als vielfacher Kickbox-Meister war Das immer schon der Meinung, ein schnelles Intelligenz-Spiel nach einem intensiven körperlichen Workout bringe enorme gesundheitliche Vorteile. Deshalb war er begeistert, als er vom Schachboxen erfuhr, sah aber darin auch eine gesellschaftliche Chance im patriarchalischen Indien: »Viele dieser Mädchen wären sonst jung verheiratet worden, hätten die Schule verlassen müssen und keine Chance auf eine richtige Karriere gehabt. Schachboxen hilft ihnen, Träume zu verwirklichen – den Traum von einer Medaille, einer fantastischen Leistung, vielleicht einem Arbeitsplatz.«
Die amtierende indische Meisterin, Pushpa Jha, ist noch zierlicher als Richa Sharma, wuchs als unterernährtes Kind auf und ist die Tochter einer Putzfrau, aber Montu Das preist sie für ihre Kämpfernatur: »Sie gibt nie auf.« Das Preisgeld half ihr, ihre Familie finanziell zu unterstützen. Vieler dieser jungen Frauen haben nicht die finanziellen Mittel, eine Uni-Ausbildung zu finanzieren und hoffen, das Schachboxen könne – abgesehen vom Trainingseffekt – auch ein praktischer Weg in eine bessere berufliche Zukunft sein.
Richa Sharma war auch vorher schon sportlich aktiv, unter anderem durchschwamm sie mit ihrer Schwester Rashmi die Straße von Gibraltar. Ihr Idol ist die fünffache indische Box-Meisterin Mary Kom. Ganz konkret hängt die Begeisterung der Frauen aber auch damit zusammen, dass es in Indien bei vielen Universitäten und Firmen Job-Quoten für Sportler gibt: Sharma kam durch ihre sportlichen Leistungen zu ihrem jetzigen Job bei der indischen Bahn.
Dann muss sie los: Die Tochter eines ehemaligen indischen Navy-Offiziers muss jetzt noch schnell drei Kilometer schwimmen und für ihren Traum trainieren, die nächste Weltmeisterin im Schachboxen zu werden, also »die schlauste und stärkste Frau der Welt«. Und nebenbei ein paar Vorurteile aus dem Weg boxen.