Die junge Mutter stand kurz vor der Entlassung. Ihr Zimmer war seit der Geburt zu einer Auffangstation für riesige Plüsch-Minions, Stoff-Hasen und quietschende Giraffen mutiert. U1 und U2 waren erfolgt, dem Kind fehlte nichts außer Haare – und: ein Name. Als ich mal wieder nach der Frau sah, mit meinem Klemmbrett für die Geburtsanzeige unterm Arm, saß sie mit dem Vater auf ihrem Bett, im Arm das Baby. »Wir wissen es wir immer noch nicht«, sagte sie zerknirscht. »Gestern dachte ich Leon, aber irgendwie... schauen sie doch mal...« Sie streckte mir ihren drei Tage alten Sohn hin, »das passt doch nicht. Geben Sie uns noch ein bisschen Zeit?«
Ich erklärte ihr, dass sie von Gesetzes wegen einen ganzen Monat Zeit habe, einen Namen zu wählen. Nur die Geburtsanzeige müsse ich jetzt mal an das Standesamt übermitteln, dies müsse innerhalb von sieben Tagen geschehen. »Dann sagen Sie meiner Kollegin, die zu Ihnen nach Hause kommt, den Namen eben und wir reichen ihn für sie nach.«
»Oder doch Finn?« Die Frau studierte ihr Kind. Ich lächelte. »Mein Mann und ich hätten gerne was Englisches. Der Name soll international klingen, gell Schatz? Aber Finn klingt so... so einsilbig.« Sie sah mich an. »Was meinen Sie denn?«
Schlagartig hatte sich Glatteis im Stofftier-Zoo ausgebreitet. Die Namensabsichten von Eltern zu kommentieren, war extrem heikel.
Als Berufsanfängerin hatte ich manchmal noch geantwortet, wenn ich nach meiner Meinung gefragt worden war, aber mit Sätzen wie »Gwendolin, das klingt ja wie im Märchen« oder »Ach, einen Oskar hatten wir erst gestern« kann man nur in Fettnäpfchen treten. Irgendwann bin ich zur Schweiz mutiert: Ich halte mich raus. Und lächle wie ein Zen-Meister.
Dabei habe ich einen super Trick: Wenn ich die Eltern nach der Geburt besuche und nach dem Namen frage, schiebe ich immer hinterher: »Am besten, Sie buchstabieren ihn«. Dann senke ich den Kopf, konzentriere mich schreibbereit auf mein Klemmbrett - so muss ich den Leuten nicht in ihr hoffnungsvolles »Gell, das ist toller Name«-Gesicht schauen. Wenn ich wirklich nicht an mich halten kann, sage ich: »Ach toll, Titus Tiberius Trajan! Das hatten wir hier auch noch nicht!« Das klingt freudig und distanziert zugleich.
Neulich habe ich mich gefreut, weil das Kind, das jahrelang meinen absoluten Lieblingsnamen trug – Melia Calippo Prada Gonzales – ein Geschwisterchen bekommen hat: einen Bruder namens Jeffrey Florentino Don Juan. Die Ochsenknecht'sche Reihung ist der Ausweg für alle Spät-Entschlossenen, nach dem Motto: einmal alles bitte. Mögen wir Hebammen früher noch zaghaft eingewendet haben, »Don Juan« könne beim Standesamt schwierig werden, schreiben wir nun einfach immer alles beflissen auf. Die Welt ist global geworden, und damit auch die Auswahl an Vornamen und deren Kombinationsmöglichkeiten.
Hoffentlich geht es den Kindern später nicht wie jenem Frühchen, das wochenlang bei uns auf der Kinderintensivstation lag. Der kleine Junge hatte drei traditionelle polnische Vornamen, die einiges an Übung brauchten, um korrekt ausgesprochen zu werden: Miecysław Tyberiusz Radomir. Irgendwann bekam ich mit, dass die Stationsschwestern untereinander nur noch vom MTR sprachen. Es war für sie einfach schneller.
Über Paare erfährt man bei der Namensgebung natürlich auch viel: Aus manchen Müttern platzt es, wenn ich sie frage, heraus und sie sagen »Benjamin!«, und der Partner wirkt erstmal überrascht und es ist klar: Es war noch ein anderer Name im Rennen. Oft frage ich auch vor oder während der Geburt nach dem Namen des Kindes, um ein wenig Smalltalk zu betreiben. Wenn ich dann spüre, das Paar ist sich noch uneins, sage ich zu der Frau gerne heimlich: »Warten Sie bis nach der Geburt. Nach der Anstrengung haben Sie erfahrungsgemäß einen kleinen Bonus.« Es ist meine Form der Frauensolidarität!
Wenn ich den Namen des Kindes aufnehme, setzen die Eltern auch gerne zu einer Herleitungsgeschichte an - wie bei einem Tattoo (»also die Sonne steht für meinen Optimismus und der Delfin symbolisiert meinen Freiheitsdrang«). Vor kurzem hatten wir einen »Ronaldo Romeo Joaquin« und die Mutter erklärte mir dann ausgiebig: »Naja Ronaldo, weil mein Mann den Fußballer so mochte, Romeo wegen Romeo und Julia und Joaquin, weil ich einen Onkel habe, der Joachim heißt und nach Spanien ausgewandert ist. Dann denk ich mir nur: »Super Geschichte, aber soll die euer Kind dann auch immer erzählen, wenn der Lehrer fragt?«
Neben der großen Individualitätsabsicht mit aneinander gereihten Wow-Namen gibt es natürlich auch die Elternfraktion, die ihren Kindern mit dem Namen die besten Chancen geben wollen, später mal an der Upper Class anzudocken oder an einem Elite-Internat aufgenommen zu werden: Friedrich-Hubertus und seine Schwester Grazia-Victoria. Die Hebamme als königlich-kaiserliche Kinderlieferantin.
In dem Großstadtkrankenhaus, in dem ich arbeite, hat die Wow-Namen-Fraktion gegenüber den Aristokraten leicht die Oberhand, aber ich weiß von Kolleginnen: Anderswo ist es genau umgekehrt. Was derzeit verblasst, sind die Namen meiner Generation – kaum mehr Thomasse, Sabines, Christophs oder Michaels. Dafür häufen sich die Vornamen einer anderen Epoche wieder und auf dem Spielplatz drehen sich bestimmt mindestens zwei Kinder um, wenn es für Anton, Greta oder Emil Zeit wird, nach Hause zu gehen. Wir Hebammen fragen uns immer, wann die Generation Ursula, Karl-Heinz und Gerhard wieder dran ist. Ob ich dann noch Dienst habe? Das wird lustig.
Ich hatte das Paar mit den vielen Plüschtieren schon fast vergessen, als mich fast vier Wochen später meine Kollegin ansprach: Stell dir vor, erzählte sie, an Tag 29 nach der Geburt hätten sie sich endlich durchgerungen und aufgeregt die diensthabende Hebamme angerufen: ein Kevin.