Nach der Frühschicht war ich in die Stadt geradelt und hatte mir das Kleid gekauft, dass ich schon seit Wochen im Auge hatte. Am Abend würde eine Freundin ihren 30. Geburtstag feiern. Im neuen Kleid und mit dem matten roten Lippenstift, der mir fürs Krankenhaus immer ein wenig zu gewagt erscheint, betrat ich die Party in einer Altbauwohnung im Norden der Stadt.
»Gut, dass du da bist, wir haben hier gerade eine kleine Diskussion«, begrüßte mich eine Bekannte, die umringt war von zwei Schwangeren und zwei weiteren Frauen, die – wie ich erfuhr – vor kurzem ein Kind bekommen hatten. »Gerade abgestillt!«, sagte eine der beiden triumphierend und plingte an ihr Glas. Ich taxierte ihren Gin Tonic und nickte grinsend. Jemand würde morgen Kopfschmerzen haben.
»Wie kann Dr. Sommer helfen?« fragte ich und schnappte mir noch schnell ein Glas Sekt. Wenn das hier mal wieder eine Beratungsstunde werden sollte, dann wenigstens mit einem Drink in der Hand.
Ob es Steuerberatern, Key Account Managern und Schreinern auch so geht? Auf Partys wird mein Beruf wirklich immer Thema. Und ich liebe ihn ja und freue mich, wenn Menschen sich dafür interessieren und ich mit ein paar Mythen aufräumen kann. Aber neulich erzählte mir eine kurz zuvor noch unbekannte Frau ernsthaft in der Buffetschlange auf einer Hochzeit, wie sehr ihre Dammriss-Narbe noch schmerzte. »Die Rouladen sehen super aus«, hatte ich versucht, das Thema zu wechseln.
Ich war also eingekesselt von zwei Bäuchen und vier fragenden Augenpaaren und glaubte, mal wieder in jenes Minenfeld geraten zu sein, das auf drei Seiten von Sprengstoff begrenzt wurde: Kaiserschnitt, Krippenplatz und Stillen. Über diese drei Themen habe ich schon Partys implodieren und Freundschaften zerbrechen sehen. Denn oft entzünden sich an diesen Begriffen Diskussionen, die in Wahrheit um etwas anderes kreisen: um die Frage, was eine »gute Mutter« ausmacht.
Gekämpft wird dabei mit scharfen Waffen: mit hochgezogenen Augenbrauen (»Wie, du hast dich noch nicht in der Kita angemeldet?«), unverhohlener Skepsis (»Du willst es gar nicht erst mit einer natürlichen Geburt versuchen?«) und verdächtiger Coolness (»Klar, waren meine Brustwarzen anfangs blutig, aber das Stillen ist einfach zu wichtig für mein Kind«). Als Hebamme kommt mir dann die Rolle der Schiedsrichterin zu. Ich soll unparteiisch sein, meine fachliche Meinung einbringen. Aber oft ist das doch nicht immer das, was diese Frauen gern hören möchten.
Doch diesmal hatte ich mich getäuscht: Die Gruppe, die hier stand, war mit viel philosophischeren Fragen beschäftigt: Was macht eine Schwangerschaft mit der Liebe, mit dem Körper, mit den Freundschaften? Die Frauen führten ein für eine Party erstaunlich tiefgründiges Gespräch, das von Sorgen und Zweifeln geprägt war.
Ich ließ den Blick durch Raum schweifen und dachte an meine Freundin Nadine, mit der ich mich vor etwa einem halben Jahr überworfen hatte. Sie hatte Zwillinge erwartet und mich zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen und um Rat gefragt – ich war so etwas wie ihre persönliche Rufbereitschaft gewesen.
Bei einem ihrer Anrufe hatte sie mir verkündet, dass sie ihre Kinder in einer Privatklinik zur Welt bringen wollte – obwohl sie nicht weit von dem Perinatalzentrum entfernt wohnte, das auf komplizierte Geburten spezialisiert ist. In der Privatklinik habe man ihr gleich einen Kaiserschnitt vorgeschlagen. Mit natürlichen Zwillingsgeburten hätten sie dort keine große Erfahrung, ein Kaiserschnitt aber sei wunderbar planbar, sicher, eine praktische Angelegenheit. Keine große Erfahrung? Meine Alarmglocken schlugen verlässlich an.
Vorsichtig hatte ich eingewandt, dass eine vaginale Geburt bei Zwillingen gar nicht mehr so ungewöhnlich sei, und für den Fall, dass die Feten wie bei ihr in optimaler Position lägen, auch medizinisch ratsamer. Zumindest eine Zweitmeinung aus einer größeren Klinik sei doch eine Überlegung wert. Doch Nadine hatte auf der noblen Privatklinik bestanden: »Ich hätte dort ein Einzelzimmer, mit Blick auf einen See...«
»...und eine Kaiserschnitt-Narbe, die bei jeder Bewegung in den ersten Wochen schmerzt, während zwei Babys Hunger haben.« Ich hatte das damals nur gedacht, nicht gesagt. Aber Nadine hatte wohl trotzdem das Gefühl, ich sei beleidigt, dass sie nicht meinem Rat folge. Seitdem herrschte Funkstille.
Das passiert mir oft: Freundinnen wollen eine Art Absolution für Entscheidungen, die sie treffen. Oder möchten, dass ich nachträglich mit ihnen in einen Lästerkanon einstimme, wenn etwas doch nicht so gut gelaufen ist: Das muss kein großer Behandlungsfehler sein, es reicht, dass die Ärztin barsch war oder sie das Baby nach der Geburt nicht gleich sehen konnten. Sie wollen dann ein entschiedenes »Geht ja gar nicht« hören, dabei war ich nicht dabei und kenne die jeweilige Situation nicht. »Jedes Krankenhaus hat seine eigenen Regeln«, versuche ich dann immer möglichst neutral zu sagen.
Egal, ob ich sie offiziell als Hebamme betreue oder nur als Freundin berate: Mir ist vor allem für sie, wie für alle Frauen, wichtig, dass sie das erhalten, was man informed choice nennt: dass sie gut informiert werden, ihre Optionen und Rechte kennen und nicht über ihren Kopf hinweg entschieden wird wie in diesem absurden Monty-Python-Sketch.
Die Umstehenden waren mit steigendem Alkoholpegel von den philosophischen Fragen dann doch zu den Hihi-Themen gewechselt. Dammriss, Ausweitung der Vagina, die Klassiker halt. Und ich fühlte mich schlecht wegen Nadine. Das war doch Quatsch. Und im Nachhinein auch total egal, Hautpsache die Zwillinge waren wohlauf – das hatte ich Facebook entnommen – und Nadine war mit ihrem Weg zufrieden.
Ich zückte mein Handy und schrieb ihr eine Whatsapp. Sie antwortete postwendend: »Wie schön, von dir zu hören, Maja! Würde dir meine Beiden gern mal vorstellen. Und mit dir endlich mal wieder einen Kaffee trinken gehen – ganz ohne Fragen zu Kindern und Geburt.«
Erleichtert sagte ich in die Runde: »Dr. Sommer macht Feierabend, ich hole noch eine Runde, wer mag was?«