»Brot ist ein lebendiges Wesen. Und dieses Lebewesen sollte gezähmt werden.«

Der Forscher Aaron Bobrow-Strain hat die Geschichte des Weißbrots untersucht: lauter ideologische Kämpfe – und aufbegehrende Hippies.

Der amerikanische Brotforscher Aaron Bobrow-Strain

SZ-Magazin: Herr Bobrow-Strain, Sie backen Ihr Brot selbst, Ihre Frau käst ihren eigenen Käse, Gleichzeitig machen Sie sich über die Biobewegung lustig. Wie passt das zusammen?
Aaron Bobrow-Strain: Ich unterstütze ökologische Landwirtschaft, Nahrungsmittel, die in der Region angebaut werden, Bauernmärkte und Bioläden. Aber ich bin skeptisch geworden über manche Formen, die diese Bewegung angenommen hat.

Welche Formen meinen Sie?
Die Biobewegung ist selbstverliebt geworden. Als gehe es vor allem darum, der Welt zu zeigen, dass man selbst die wahren Lebensmittel isst – und ist das nicht traurig, dass die anderen sich so falsch ernähren? Dieses elitäre Denken hilft uns nicht, das System unserer Ernährung grundlegend zu verändern. Ich bin aber der Überzeugung, dass sich dieses System radikal ändern muss.

Meistgelesen diese Woche:

Sie haben deshalb ein Buch über bessere Ernährung geschrieben – gibt es davon nicht schon genug?
Ich habe mir unzählige Bücher angesehen. Wir leben in einem goldenen Zeitalter der Information über unsere Ernährung und die damit zusammenhängenden Probleme. Aber es gibt nur wenige Bücher darüber, wie Menschen in der Vergangenheit versucht haben, unsere Ernährung zu ändern. Das wollte ich aber wissen: Was haben die Menschen alles versucht? Warum sind sie gescheitert?

Sie haben ein besonderes Lebensmittel gewählt, um diese Fragen zu untersuchen: Weißbrot.

Aber nicht die europäische Art, den knusprigen Laib vom Bäcker um die Ecke. Sondern das labberige, schon aufgeschnittene Toastbrot aus der Fabrik, wie wir es hier in den Vereinigten Staaten haben.

Warum gerade diese Brot?
Weil es das am stärksten umkämpfte Lebensmittel in der amerikanischen Geschichte war. An dem Beispiel lässt sich etwas über die Bewegung für alternative Ernährung lernen. Meine Leitfrage war: Können wir die Welt verändern, indem wir zu ändern versuchen, was und wie Menschen essen? Ich habe allerdings schnell festgestellt: Wenn wir über Ernährung streiten, streiten wir in Wirklichkeit fast immer über etwas anderes.

Sie schreiben, Brot sei das »erste politische Lebensmittel«.
Solange es Brot gibt, ist über Brot gestritten worden. Schon vor 2400 Jahren beschäftigte sich Platon damit, ob sich die ideale Gesellschaft besser von grobem Brot oder feinem Gebäck ernähren sollte – überspitzt gesagt: Sollte der gute Bürger Vollkornbrot oder Weißbrot essen?

Was empfiehlt Platon?
Natürlich gibt Platon keine endgültige Antwort. Seine Diskussion dreht sich nicht wirklich um Ernährung oder Brot. Für ihn war das eine Debatte um die moralischen Tugenden der Athener: Menschen ziehen vom Land, wo sie einfaches Brot aus Gerste aßen, in die Stadt, wo es Kuchen, Gebäck und andere Delikatessen des luxuriösen Lebens gab – geht dabei etwas verloren? Brot wird also zu einem Symbol für eine viel größere soziale Frage.

Warum ist Brot so ein machtvolles Symbol?
In der Bibel heißt es: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – dabei lebten die Menschen im Lauf der Geschichte sehr oft fast ausschließlich von Brot. Je nach Epoche nahmen Europäer zwischen 40 und 60 Prozent ihrer täglichen Kalorien in Form von Brot zu sich, das reicht bis in die 1950er-Jahre. Wenn eine Speise so lebenswichtig ist, überrascht es nicht, dass sie ein unglaubliches symbolisches Gewicht bekommt.

Die Olympischen Spiele des Backwesens

An der Herstellung hat sich über Jahrtausende nur wenig geändert – bis das Brot aus der Backfabrik auftauchte. Sie schreiben, dieses Weißbrot sei entwickelt und konstruiert worden wie die stromlinienförmigen Züge jener Zeit am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Weißbrot ist industrialisiert worden, das waren die Olympischen Spiele des Backwesens: Sie versuchen, Brot schneller, höher und stärker zu machen. Im Grunde ist Brot, heute noch genauso wie vor tausend Jahren, an den Rhythmus der Natur gebunden: den Rhythmus der Hefe, den Rhythmus der Mikroorganismen, die den Teig gehen lassen – am Anfang des Backens steht eine Gärung, da produzieren Hefepilze Gas! Brot ist ein lebendiges Wesen. Und dieses wilde Lebewesen sollte gezähmt werden. Dennoch konnte man mit technischen Fortentwicklungen und allerlei Zusätzen das Backen nur bis zu einem gewissen Grad beschleunigen.

Warum?
Der Teig muss schließlich immer noch gehen. Deswegen arbeiteten auch industrielle Backfabriken am Anfang nicht sehr viel anders als die alten Ägypter: Sie mischten einen Teil Teig an, der dann stehen musste, bis er gegangen war. Sie konnten die Gärung ein wenig schneller machen, aber sie hatten immer noch viele Chargen von gärendem Teig herumstehen, die Platz wegnahmen. Stellen Sie sich vor, Sie produzieren Mobiltelefone und müssen jedes ein paar Stunden auf dem Fabrikboden liegen lassen, bevor Sie es komplett montieren können. Für einen Geschäftsmann macht das keinen Sinn. Also begannen Lebensmittelchemiker daran zu arbeiten, den Gärprozess vom Backen zu trennen.

Den »Heiligen Gral der Backwissenschaft« haben Sie dieses Ziel genannt, die natürliche Gärung zu umgehen.

Es war der schwierigste Teil auf dem Weg zum großindustriellen Backen, und er brauchte am längsten, bis er bewältigt war. Aber Anfang der Fünfzigerjahre gelang es Lebensmittelchemikern, die Gärung in einem abgetrennten Prozess und in industriellem Maßstab ablaufen zu lassen und dann einfach ein fertig gegorenes Gemisch aus Mikroorganismen und Gärmitteln in den eigentlichen Teig zu injizieren. Auf diese Art erhielt man die Effekte der Gärung, wie Geschmack zum Beispiel, ohne so lange darauf warten zu müssen.

Industriell gefertigtes Brot war von Anfang an ein großer Erfolg. Im Jahr 1890 wurden 90 Prozent des amerikanischen Brotes noch zu Hause gebacken – aber schon 1930 kamen 90 Prozent des Brotes aus Backfabriken, vor allem als Weißbrot. Was machte dieses Produkt so erfolgreich?
Die Industrialisierung des Backens beginnt in einer Zeit, in der die Menschen fasziniert waren vom Fortschritt, von Maschinen, von der Zukunft – eine Zukunft, in der die Industrie die Bedürfnisse decken würde, Technik die Natur unterwirft und wir alle sehr glücklich sein würden. In diesem Moment nimmt das strahlend weiße Brot, das da aus modernen Fabriken kommt, eine utopische Aura an. Jede Scheibe davon war ein essbares Sinnbild des technologischen Fortschritts.

In Anzeigen aus den Zwanzigerjahren sehen Weißbrot-Laibe aus wie Gebäude des Bauhauses, Marken bekommen Namen wie »Utopia« oder »Wonder Bread«. Aber heute gilt geschnittenes Weißbrot aus der Plastikpackung als »white trash«, als Symbol für Armut und schlechte Ernährung. Was ist passiert?
Das war ein langer Prozess. Überraschend daran war für mich, wie sehr Amerikaner in der Vergangenheit um Weißbrot stritten. Es ist eine der Konstanten unserer Geschichte, dieses Produkt zu lieben oder zu hassen. Ich dachte, dieser Wandel in der Symbolik begann erst in den Sechzigerjahren.

Hippies hassten Weißbrot?
Für sie war Weißbrot ein Symbol für alles, was sie an Amerika falsch fanden, was sie verändern wollten – es war kommerziell, es war künstlich, es war Establishment. Die Vorstellung, nur noch Vollkornbrot zu essen, am besten selbst gebacken, war wirklich eine politische Vision, um die Gesellschaft zu verändern.

Damals hieß es: Je weißer das Brot, desto schneller bist du tot.
Und die Backindustrie kam schnell darauf, sich diesen jungen, rebellischen Geist nutzbar zu machen: Sie brachte industriell gebackenes Vollkornbrot auf den Markt – sogenanntes Gesundheitsbrot. Manchmal war Zellstoff aus Holz drin, um dem Brot mehr Ballaststoffe zu geben.

Klingt nicht besonders appetitlich.
Aber dieses Brot konnte als hochwertiges Produkt vertrieben und teuer verkauft werden. Mit diesem Impuls, der vom Konsumenten ausgeht, wird Brot eine Art Statussymbol: Ich esse das wahre Essen, ich esse dieses gesunde Vollkornbrot und nicht so ein labbriges Weißbrot. In den Achtzigerjahren steht das industrielle Weißbrot dann schon für eine arme, auf dem Land lebende, weiße Person aus der Unterschicht. Ich habe bei meinen Forschungen übrigens gelernt, dass sich die Wahrnehmung des Brotes nicht erst mit den Hippies änderte, die Debatte begann viel früher: Schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren waren Menschen unzufrieden mit indus-triellem Weißbrot und sagten, es sei der Grund für so ziemlich alles von Faulheit und Verbrechen bis hin zu Übergewicht und Tuberkulose.

Trotz des ungetrübten Fortschrittsglaubens, der damals noch herrschte?
Ja, auch in dieser Zeit gab es Bewegungen für eine andere Ernährung und jede Menge Ernährungsgurus. Sie glaubten, sie könnten einfach in die Mietskasernen von New York oder Chicago gehen und den Menschen der Armenviertel beibringen, sich anständig zu ernähren, und das würde dann deren Probleme lösen.

Im Grunde nichts anderes als das, was der britische Fernsehkoch Jamie Oliver heute macht.
Nichts gegen Jamie Oliver. Seine Empfehlungen für eine gute Ernährung sind großartig. Aber auch die Jamie Olivers von damals empfahlen nichts Falsches: selbst gezogenes Gemüse oder Vollkornbrot statt Weißbrot. Sie übersahen allerdings vollkommen, warum die Armen arm waren. Sie waren ja nicht arm oder krank, weil ihnen das Wissen oder das moralische Rückgrat fehlte, die richtigen Entscheidungen über ihre Ernährung zu treffen. Sie waren arm oder krank wegen der Bedingungen, in denen sie lebten. Sie sahen die Ernährungsgurus mit ihren Tipps über selbst gezogenes Gemüse an und sagten: Na ja, was wir wirklich brauchen, ist eine Gesundheitsversorgung. Höhere Löhne. Schulen. Dann kehrten die Gurus aus den Armenvierteln zurück und sagten: Nicht zu fassen, diese Leute – die wollen unser gutes Essen nicht!

Die Macht liegt in den Händen von einigen wenigen Nahrungsmittelkonzernen

Was machten diese Propheten einer besseren Ernährung falsch?
Sie nahmen soziale Fragen und verwandelten sie in moralische und individuelle Fragen darüber, wie sich eine Personen ernähren soll. Wenn ich auf die Geschichte der Kämpfe ums Weißbrot schaue, habe ich das Gefühl: Jamie Oliver und andere verstärken soziale Klüfte nur, weil sie mit ihrer Kritik lediglich beim Einzelnen ansetzen, aber das gesamte Ernährungssystem größtenteils unangetastet lassen.

Was verstehen Sie unter Ernährungssystem?
Die große Welt der Landwirtschaft. Die Regierungen, die Landwirtschaft regulieren. Die Konzerne, die Saatgut oder Pestizide verkaufen. Die Welt der Arbeiter, die Gemüse pflücken. Die historisch nie dagewesene Konzentration von Macht in den Händen von einigen sehr wenigen Nahrungsmittelkonzernen, die bestimmen können, wie sich Menschen auf der ganzen Welt ernähren.

Weiß das nicht jeder, der sich für Ernährung interessiert?
Ich habe mir auf einer Buchmesse den Vortrag einer Autorin angehört, die ein Jahr lang soziale Brennpunkte besucht hatte und armen Menschen beibrachte zu kochen, in ihren Worten: ordentlich. Der letzte Satz ihres Vortrags lautete: Wenn wir den Armen nur beibringen könnten, Vinaigrette zu machen – sie wären so viel besser dran.

Nach all Ihren Forschungen, wie lautet denn nun die Antwort: Können wir die Welt verändern, indem wir zu ändern versuchen, was und wie Menschen essen?

Ich glaube immer noch daran, ja. Nahrung verbindet uns auf eine sehr intime Art mit den großen Fragen über Gesellschaft oder Politik. Das hat Platon schon sehr genau erkannt.

Was ist Ihr Ratschlag für jemanden, der die Welt auf diesem Weg verändern will?
Weniger moralisieren. Nicht so sehr auf individuelle Entscheidungen über Essen abzielen. Wir versuchen, das Ernährungssystem als Konsumenten zu verändern – stattdessen sollten wir uns bemühen, es als Bürger zu verändern, auf politischem Weg.

Brot können Sie nach Ihrem Buch jetzt nicht mehr sehen, oder?
Ja, eine Zeit lang hatte ich die Schnauze voll von Brot. Aber um ganz darauf zu verzichten, liebe ich es viel zu sehr. Ein selbst gebackenes Weißbrot aus Sauerteig – wunderbar.


Der Brothistoriker

Eine abgegriffene Schüssel aus Steingut ist das wichtigste Utensil in Aaron Bobrow-Strains Küche: Darin setzt er seinen Sauerteig an. Bobrow-Strain bezeichnet sich als »Brot-Freak«. Geboren 1970 in Chicago, studierte er an den Universitäten von Stanford und Berkeley, wo er seinen Doktortitel in Geografie erwarb. Früh konzentrierte sich der Wissenschaftler in seiner Forschung auf Fragen der Ernährung, der Landwirtschaft und der Politik. Sein erstes Buch beschäftigte sich mit den Konflikten um Landbesitz im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Heute lebt er mit Frau und Kindern im amerikanischen Bundesstaat Washington und lehrt dort Politik an einer Privat-Universität in Walla Walla.

Fotos: Ricardo Cases