Vor ziemlich genau zwanzig Jahren stand ich in einer Küche in England und sagte: »Hi, I am Tobi from Germany.« Mir gegenüber hockten vier Briten, einer davon war Waliser – meine neuen Mitbewohner während meiner Studienzeit in Großbritannien.
Zwei Monate später sprachen wir kaum noch miteinander, es passte einfach nicht: Einer war Bodybuilder, einer ließ Heroin-Junkies in unserem Flur übernachten, der Waliser erklärte mir, es sei statistisch erwiesen, dass Deutsche von allen Menschen der Welt am wenigsten lachen, der vierte war 18 und hatte Heimweh. War aber alles kein Problem. Ich freundete mich mit einigen Norwegern und Schweden an, Rune, Anna, Fredrik, Malin, die jeden zweiten Abend mit ein paar Bier und einer Flasche Wodka zum »Vorspiel« vorbeikamen. Wir hockten in meinem Zimmer mit dem versifften Teppichboden, hörten Oasis-CDs und bereiteten uns auf einen weiteren grandiosen Abend vor.
Das norwegische »Vorspiel« – es heißt tatsächlich so – ist mehr als eine jugendliche Unvernunft, es ist eine Notwendigkeit, weil Drinks in einer Bar oder einem Club so teuer sind, dass man nach einer durchfeierten Nacht Privatinsolvenz anmelden müsste. Und obwohl ein Bierchen in Deutschland (außer in Läden, die Palais d’Amour heißen) noch nicht zehn Euro kostet, gibt es das natürlich auch bei uns, das »Vorglühen«, wenn die Dorfjugend einen Sechserpack an der Aral-Tankstelle verhaftet oder BWL-Studentinnen ein Fläschchen Prosecco vernichten, während sie sich vor dem Badezimmerspiegel die Wimpern tuschen und It’s Raining Men von den Weather Girls singen – alle mit dem Ziel, nachher, wenn’s drauf ankommt, die Wirklichkeit so weit hinter sich gelassen zu haben, dass sich so etwas wie Spaß einstellen kann.
An dieser Stelle eine Warnung: Vor ein paar Jahren ergab eine Studie, dass Menschen, die schon vor dem Ausgehen Alkohol trinken, nicht nur öfter Blackouts und unbeabsichtigten Sex, sondern am Ende auch weniger Geld in der Tasche haben, weil sie ihre Bestellungen nicht mehr unter Kontrolle haben. Und jetzt ein Geständnis: Damals fand ich das »Vorglühen« meistens schöner als das eigentliche Ausgehen. Es hat mit der Zwanglosigkeit zu tun, damit, dass man noch nicht unter Druck steht, weil der Abend noch bevorsteht, ja eigentlich nicht mal begonnen hat. Es sind die ein, zwei Stunden davor, die oft gelingen, weil sie nicht von Erwartungen kontaminiert sind, weil einem die Wirklichkeit noch nicht in die Quere gekommen ist, in denen sich so was wie Glück ereignen kann. Wie oft tat ich den ersten Schritt in einen überfüllten Club und dachte insgeheim: Mist, so laut, so eng, so anstrengend, was mach ich hier nur? Es war doch gerade noch so schön.
Als ich nach meiner Zeit in England zum ersten Mal meinen besten Freund aus der Heimat traf, begannen wir den Abend auf einer Parkbank am Fluss. Der Plan war, ein Bierchen in der Abendsonne zu trinken und dann von einer Bar in die nächste zu ziehen und auf keinen Fall vor dem Morgengrauen nach Hause zu kommen. Als es dämmerte, ging ich zum ersten Mal zur Tankstelle und holte Nachschub, danach wechselten wir uns ab. »Okay, eines noch«, sagten wir, »dann ziehen wir los«, aber wir sagten es immer wieder, und um vier Uhr in der Nacht hockten wir immer noch da, über uns der Mond, neben uns schliefen zwei Schwäne, alles war still und friedlich, es war einer der schönsten Abende meines Lebens – wie wir nach Hause gekommen sind, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr.