Ist es radikal, alle Care-Arbeit selbst zu erledigen?

Viele Frauen können nur deshalb Karriere machen, weil sie Haushalt und Fürsorge auslagern – an weniger privilegierte Frauen. Gleichberechtigung erreicht man so nicht. Was könnte ein Umdenken bewirken?

Foto: Paula Winkler

Für die eine Form des Arbeitens wird die Person entlohnt, die andere verrichtet sie unbezahlt. Zur unbezahlten Arbeit, die im Gegensatz zur Erwerbsarbeit auch als Care-Arbeit oder reproduktive Arbeit bezeichnet wird, zählen Tätigkeiten wie Putzen, Einkaufen, Rasenmähen, das Sich-Kümmern um Kinder oder die Pflege von Familienmitgliedern. Menschen organisieren unterschiedlich, wer wieviel von der unbezahlten Care-Arbeit übernimmt, und zusätzlich weicht stark voneinander ab, wieviel dieser Arbeit für eine Person überhaupt anfällt.

Dass Care-Arbeit im öffentlichen Diskurs überhaupt als Arbeit bezeichnet wird, ist relativ neu. Denn abseits von feministischen Debatten und Wissenschaft, in denen die Verteilung und Bezahlung von reproduktiver Arbeit schon seit den Siebzigerjahren diskutiert werden, ist die Sicht auf die unbezahlte Arbeit noch immer geprägt von einem eindimensionalen Blick auf das, was Wirtschaft umfasst. Hinzu kommt eine stille Akzeptanz der zusätzlichen Arbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird. Man hört Männer über ihre Partnerinnen sagen: »Meine Frau arbeitet gerade nicht«, und man hört auch Frauen diese Aussage über sich selbst treffen, wenn sie gerade keine Erwerbsarbeit haben, obwohl ihre Arbeitszeit zuhause die Acht-Stunden-Marke oft sprengen dürfte. Das trifft nicht nur auf Hausfrauen zu, sondern zum Beispiel auch auf Erwerbslose oder Menschen im Ruhestand – kaum ein erwachsener Mensch arbeitet gar nicht. Fürsorgearbeit begleitet die meisten von uns bis zum Ende des Lebens, sie überwiegt sogar den Zeitaufwand für Lohnarbeit, die Menschen überall auf der Welt jeden Tag leisten.

Der Begriff »Doppelbelastung« – im englischen Sprachraum spricht man von »second shift« – beschreibt in der Regel die Lebensrealität von Müttern, die zum einen erwerbsarbeiten, zum anderen sich um Kinder und Haushalt kümmern. Dass er für Männer nur selten Verwendung findet, hat gute Gründe: Sie übernehmen nachweislich deutlich weniger unbezahlte Arbeit als Frauen, schon bei der Kindererziehung, aber auch später in der Pflege von Angehörigen. Selbst wenn sowohl die Mütter als auch die Väter minderjähriger Kinder beide in Vollzeit arbeiten, ist der Unterschied in der unbezahlten Arbeit signifikant: In einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (2017) verbrachten die Frauen im Schnitt drei Stunden pro Tag mit Hausarbeit, Männer zwei.

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Auch bei der Fürsorgearbeit, die noch einmal separat erfasst wurde, übernahmen die Mütter mehr als die Väter. Über die Wochen, Monate und Jahre summiert sich das zu großen Unterschieden im Kontingent freier Zeit, die Frauen und Männern zur Verfügung steht. Zwar konstatierte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass der Anteil der unbezahlten Arbeit, die Männer übernehmen, seit den Neunzigerjahren größer geworden sei, allerdings erklärt sich die Annäherung der Geschlechter laut der DIW-Forscherin Claire Samtleben so: »Der wachsende Anteil von Männern an diesen unbezahlten Tätigkeiten im Paarkontext ist nicht etwa auf ihr gesteigertes Engagement im Haushalt zurückzuführen, sondern resultiert vor allem daraus, dass Frauen immer weniger Zeit für Hausarbeit und Kinderbetreuung aufwenden.«

Die erste Beziehungskrise verhindert die Spülmaschine, die zweite die Putzkraft. Während Männerkarrieren zunächst von Ehefrauen ermöglicht wurden, sind dies für Frauen heute Haushaltshilfen, Babysitter*innen und der Lieferdienst

Befinden sich die Frauen im Streik? Sicherlich haben insbesondere berufstätige Frauen die Ansprüche an sich selbst zurückgefahren. Die Wohnung darf chaotisch sein, und zum Abendessen gibt es Pizza – auch wenn gleichzeitig der Druck, in tadellos aufgeräumten Zimmern zu leben und selbst und gesund zu kochen, über Inszenierungen in sozialen Netzwerken wie Instagram steigt. Wer fotografiert schon Fertigbrei aus dem Glas und einen Geschirrberg an der Spüle? Doch auf die Verhaltensstarre der Männer, die nicht häuslicher werden, damit ihre Frauen Karriere machen können, gibt es noch eine weitere Reaktion zu akzeptieren: das Outsourcen der unbezahlten Arbeit an Personen, die dafür Geld bekommen.

Die erste Beziehungskrise verhindert die Spülmaschine, die zweite die Putzkraft. Während Männerkarrieren zunächst von Ehefrauen ermöglicht wurden, die ihnen »den Rücken freihalten«, sind dies für Frauen heute Haushaltshilfen, Babysitter*innen und der Lieferdienst vom Supermarkt. Und auch jüngere Alleinstehende greifen immer häufiger auf andere Menschen zurück, die gegen Bezahlung die Aufgaben übernehmen, die für jede*n von uns im Alltag anfallen. Ist ein Paar damit heute überfordert, selbst zu putzen und einzukaufen? Fehlt einem Single die Zeit, den Staubsauger zu bedienen? Ist es für die Bewohner*innen einer WG schwieriger, einen Putzplan abzustimmen, als ein Staatsexamen zu bestehen?

Es ist überfällig, eine sozialpolitische Debatte darüber zu führen, dass die vermeintliche Modernisierung der Geschlechterrollen in der Berufswelt keineswegs mehr Gleichberechtigung schafft. Das tut sie für lediglich einen sehr kleinen Teil der Frauen. In der Wirklichkeit jedoch bleiben Wirtschaft und Arbeit in einem veralteten, männlichen Modell stecken, in dem Macht bedeutet, die »Drecksarbeit« an Menschen abzutreten, die nur Zugang zu diesen Arten der Arbeit haben. Und privilegierte Frauen machen in diesem Modell mit. Sie stärken es, statt einzufordern, die Arbeitswelt neu zu organisieren. Denn unsere Wirtschaft, darauf weist unter anderem das in der Schweiz gegründete Bündnis »Wirtschaft ist Care« hin, wird in seiner aktuellen Verfassung nur durch unbezahlte Arbeit am Leben erhalten und hat die Care-Arbeit bislang nicht als integralen Teil der Wirtschaft verstanden.

Die wachsende Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft wird überall in der Welt ermöglicht durch eine oft ausbeutende, oft rassifizierte Arbeitsteilung: Privilegierte Menschen geben die Care-Arbeit, für die ihnen nun die traditionelle Hausfrau fehlt, für die sie selbst keine Zeit mehr haben oder die sie als unterhalb ihrer Würde empfinden, an Frauen und Migrant*innen ab, die aufgrund ihrer Rassifizierung oder sozialen Klasse in der jeweiligen Gesellschaft schlechtere Chancen auf Bildung und Arbeit haben. Selbst hochqualifizierte Migrant*innen – auch in dieser Gruppe sind es deutlich mehr Frauen als Männer – arbeiten oft zunächst oder dauerhaft im Niedriglohnsektor oder unangemeldet in Privathaushalten. In Deutschland arbeitet trotz des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen jede*r Vierte zu Niedriglöhnen.

Der Bedarf an Arbeiter*innen, die insbesondere in privaten Haushalten, in der Pflege und in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, wäre in Deutschland aktuell ohne Migrant*innen kaum zu decken. Im vergangenen Jahr reiste der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unter anderem nach Mexiko, um dort Pflegekräfte für Deutschland anzuwerben. In Gesprächen im Familien- und Bekanntenkreis fallen Sprüche wie: »Wenn Opa krank wird, holen wir uns eine Polin«, statt losgelöst von der Nationalität über die Beschäftigung einer Pflegekraft zu sprechen oder zu diskutieren, warum Opa von keinem Familienmitglied gepflegt werden kann. Dass Menschen in Klassen denken und zwischen wichtiger und unwichtiger Arbeit unterscheiden, die von »den anderen« übernommen werden soll, ist noch überall stark verbreitet – egal als wie aufgeklärt sich eine Gesellschaft versteht.

Doch was ist, wenn Frauen aus Osteuropa in ihren Heimatländern gute Arbeit finden? Was passiert, wenn keine einzige Frau aus Mexiko oder Bulgarien in Deutschland alte Leute pflegen will? Was passiert, wenn unser Bildungssystem nur noch hochqualifizierte Menschen hervorbringt? Glauben wir dann eher an eine Zukunft, in der Roboter in Seniorenheimen das Essen reichen, statt zu sehen, dass eine gerechte Verteilung von Care-Arbeit andere Konzepte erfordert, als sie weiter entweder gar nicht zu bezahlen oder sie von Menschen machen zu lassen, die dafür wenig Geld erhalten?

Solange Care-Arbeit nur delegiert wird, müssen Männer sich nicht verändern. Vielmehr laden sie einen kleinen Teil der Frauen ein, ihre Lebensweise nachzuahmen

Die gegenwärtige Organisation von Arbeit ermöglicht die Gleichstellung von Frauen und Männern nur unvollständig und hat den Männern in dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation keine aktive Rolle zugewiesen. Solange Care-Arbeit nur delegiert wird, müssen Männer sich nicht verändern. Vielmehr laden sie einen kleinen Teil der Frauen ein, ihre Lebensweise nachzuahmen und ebenfalls die Hälfte der täglich anfallenden Arbeit zu verweigern und weiterzugeben. Doch die Menschen, die weniger angesehene Arbeit machen, werden in dem, was gemeinhin als Gleichberechtigung verstanden wird, schlicht vergessen – dabei werden sowohl Karrieren als auch Gleichberechtigung in der Wirtschaft erst von diesen Menschen ermöglicht. »Keine menschliche Produktion ist möglich, ohne dass die Natur schon produziert hat, und keine Erwerbsarbeit ist möglich ohne vorher geleistete Sorgearbeit – beide werden der Ökonomie unhinterfragt vorausgesetzt«, schreibt Adelheid Biesecker, emeritierte Professorin für Wirtschaftswissenschaften, die sich insbesondere mit dem Thema »Vorsorgendes Wirtschaften« beschäftigt hat. Sie vertritt die Auffassung, dass eine Ökonomie, die Care-Arbeit nicht einbezieht, niemals nachhaltig sein könne.

Diejenigen, die sich Haushaltshilfen leisten können, reden sich mit dem Mantra »Anders ist es nicht zu schaffen« schön, dass die Art, wie wir wirtschaften und zusammenleben, unsere Gesellschaft aufteilt: In Menschen, die sich durch das Outsourcen von Care-Arbeit voll dem Geldverdienen widmen können und einen entspannteren Alltag haben, und Menschen, die bis zur Erschöpfung arbeiten oder keiner Erwerbsarbeit nachgehen können, weil ihre Care-Arbeit für beispielsweise ein schwerkrankes Kind nicht delegierbar ist. Wie Alleinerziehende und andere Leute, die all ihre unbezahlte Arbeit selbst stemmen, ihren Alltag meistern, wird von denjenigen, die sich fürs Abgeben dieser Arbeit entschieden haben, oft nicht gefragt. Wer putzt die Wohnung der Putzkraft? Wer pflegt die Mutter der osteuropäischen Pflegekraft?

Die kalifornische Soziologin Arlie Russell Hochschild hat in der Analyse auf diese Fragen den Begriff »Global Care Chains« geprägt, der beschreibt, das Arbeitsmigrant*innen – meistens Frauen – in den Zielländern Care-Aufgaben übernehmen und in ihren eigenen Familien eine Lücke hinterlassen, die oft von weiblichen Verwandten wie ihren eigenen Müttern oder ältesten Töchtern geschlossen wird. An diesem Globalisierungseffekt wird besonders deutlich, dass die Sorgearbeit nicht geschlechtergerecht neu verteilt, sondern länderübergreifend unter Frauen weitergegeben wird: von wohlhabenden Frauen an ärmere Frauen und von diesen Frauen an weibliche Verwandte. In den Betreuungsketten nimmt die finanzielle Wertschätzung des Sich-umeinander-Kümmerns zudem stufenweise ab und hält die betreuenden Familienangehörigen von einer eigenen Erwerbstätigkeit ab.

Ist es moralisch verwerflich, sich von Care-Arbeit freizukaufen? Das kommt darauf an, wie man die outgesourcte Arbeit bezahlt und wie sich diese Entscheidung strukturell auswirkt. Denn wenn man zum Beispiel eine Putzkraft einstellt, um am Wochenende die Füße hochlegen zu können, wäre ein erster Schritt, das Gehalt der Putzkraft daran zu orientieren, was einem die eigene Zeit wert ist. Warum sollte eine andere Person für zehn Euro arbeiten, wenn man selbst unter einem Stundensatz von 40 Euro nicht den Finger rührt? Wir können in vielen Bereichen nicht direkt beeinflussen, was andere verdienen, doch bei Tätigkeiten, für die man bewusst andere Menschen engagiert, sei es die Putzkraft, die Babysitterin oder der Friseur, liegt die Entscheidung der finanziellen Wertschätzung bei uns selbst.

Es mag eine sehr unangenehme Erkenntnis sein, dass man sich darüber, wie man Menschen für Care-Arbeit bezahlen möchte, in der Regel über sie stellt. Aber das einen Moment lang auszuhalten, statt sofort abzuwehren, hilft dabei, Care-Arbeit künftig anders zu bewerten. Wer eine Putzkraft einstellt, klopft sich vielleicht auf die Schulter dafür, einen Job geschaffen zu haben. Doch dieses generöse Gefühl blendet den weiteren Kontext aus. Mit dieser Sichtweise akzeptiert man, dass die Chancen auf Bildung und Arbeit stark ungleich verteilt sind. In einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen gute Berufsqualifikationen und Zugangschancen zu regulären Arbeitsstellen hätten, würde das Angebot billiger Arbeitskräfte für Dienstleistungen im Haushalt sinken. Wo verorten wir im Bild »Wohlstand für alle« die Care-Arbeit?

Wenn ein Mann nur aus dem Grund erwerbsarbeiten kann, dass seine Frau sich zuhause um die Kinder kümmert, sollte sie Anspruch auf die Hälfte des Einkommens haben.

Unangenehm ist ebenso die Einsicht, dass die Ungerechtigkeit, die gegenwärtig mit der Verteilung von Care-Arbeit verbunden ist, auch in privaten Beziehungen wirkt. Denn obwohl in den meisten Familien alle Erwachsenen viel arbeiten, profitiert in vielen Mann-Frau-Beziehungen eine Person finanziell deutlich mehr davon. Wenn zum Beispiel ein Mann nur aus dem Grund erwerbsarbeiten kann, dass seine Frau sich zuhause um die Kinder kümmert, sollte sie Anspruch auf die Hälfte des Einkommens haben. Denn sie ermöglicht mit der Übernahme der unbezahlten Arbeit, dass die andere Person für ihre Arbeit bezahlt wird.

In dem Moment, in dem sie sich weigern würde, unbezahlt zu arbeiten, müsste eine Lösung für einen finanziellen Ausgleich gefunden werden, um die sich leider viele Paare drücken. Die unbezahlte Arbeit wird meistens erledigt, ohne eine Beteiligung am Erwerbslohn und eine gleichwertige Altersvorsorge zu fordern und ohne dass die Person, die bezahlt wird, darüber reflektiert, welches Ungleichgewicht von Macht und finanziellen Mitteln sie herbeiführt, wenn sie nicht teilt. Doch um dafür in einer Beziehung ein faires Modell zu entwickeln, braucht es ein Bewusstsein für die langfristige Wirkung des Lebensmodells, in dem immer noch meistens Männer den Großteil der bezahlten und Frauen den Großteil der unbezahlten Arbeit übernehmen.

Es bei privaten Absprachen in Familien zu belassen, würde jedoch vor allem gebildete, durchsetzungskräftige Menschen bevorzugen. Daher müssten in einem Modell des Wirtschaftens, das Care-Arbeit integriert, Ideen für die Entlohnung und Verteilung der fürsorgenden Aufgaben entwickelt werden. Die internationale Kampagne »Lohn für Hausarbeit« wurde schon in den Siebzigerjahren von Feministinnen wie Silvia Federici als eine der plakativsten Ideen hierzu in die Diskussion eingebracht.

Die Idee des Frauenstreiks zum Equal Pay Day, der auf die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern in ihren Berufen aufmerksam machen sollte, wäre vermutlich noch einmal viel effektiver, wenn er vor allem auf den Care-Sektor ausgeweitet würde – für mindestens einen Monat statt einen Tag. Wenn all diejenigen, die gerade unbezahlt arbeiten, nicht mehr putzten, einkauften, kochten, Babys trösteten und nicht ihre alten Eltern pflegen würden, würde das nicht nur in Familien zum Chaos führen.

Zuletzt wurden zwei Drittel der unter dreijährigen Kinder zuhause und nicht in einer Kita betreut – mit streikenden Hausfrauen und Großeltern wären das rund 1,6 Millionen Kleinkinder, die in der Zeit des Streiks vor allem von Vätern betreut werden müssten, so dass diese an ihren Arbeitsstellen fehlen würden. Rechnet man nun noch die älteren Kinder hinzu sowie die Schulkinder, die oft von in Teilzeit arbeitenden Müttern umsorgt werden – aktuell arbeiten 66 Prozent der Mütter minderjähriger Kinder in Teilzeit –, sollte langsam klar werden, wie sehr die Produktivität der Wirtschaft und die männliche Erwerbstätigkeit abhängig sind von unbezahlter Care-Arbeit, die vor allem Frauen übernehmen. Care-Arbeit ist Teil der Wirtschaft. Solange sie nicht in sie einbezogen wird, sind alle Rechnungen falsch und Überlegungen zu Zukunftsmodellen der Wirtschaft lückenhaft, da sie nur für einen Teil der Menschheit entworfen werden.

Eine der entscheidenden Fragen für uns als Gesellschaft ist, wie viele Stunden täglicher Arbeit wir als zumutbar für einen Menschen definieren

Für einige Familien und Alleinstehende funktioniert der Alltag ohne Überlastung und Stress und auch ohne Hilfe von anderen. Wenn beispielsweise ein Paar jeweils in Teilzeit arbeitet, bleiben noch ausreichend Stunden übrig, um den Haushalt zu organisieren und Zeit mit den Kindern zu verbringen. Eine der entscheidenden Fragen für uns als Gesellschaft ist, wie viele Stunden täglicher Arbeit – egal ob Erwerbs- oder Care-Arbeit – wir als zumutbar für einen Menschen definieren und wie wir ermöglichen, dass die völlig freie Zeit gerechter verteilt wird. Denn wer acht Stunden arbeitet, dazu zwei Stunden pendelt, den Haushalt organisiert und sich dann noch um andere kümmert, dem bleibt wenig freie Zeit. Vielleicht nur die zum Schlafen.

Was könnte ein Umdenken bewirken? Wenn zum Beispiel die besonders privilegierten Menschen beginnen würden, ihre Care-Arbeit oder den Anteil der unbezahlten Arbeit in ihrer Familie vollständig selbst zu übernehmen, würden sie sehen, wieviel Arbeit jeden Tag notwendig ist, damit alle gut versorgt sind. Wieviel Care-Arbeit jeden Tag notwendig ist, und um das zu halten, was sie als guten Lebensstandard empfinden. Die Wertschätzung für diese Arbeit und für die Menschen, die sie bislang übernommen haben, würde steigen. Die Menschen, die bislang ihren Anteil delegiert haben, würden sehen, dass die Zeit, die noch übrig ist, nicht mehr reicht, um den bisherigen Umfang ihrer Erwerbsarbeit zu erledigen.

Doch in diesem Gedankenspiel gibt es ein Problem: Die individuelle Übernahme der Care-Arbeit im eigenen Umfeld ist als Modell für eine gesamte Gesellschaft nicht tragfähig, da diese Idee keinen Ausgleich beinhaltet für die unterschiedlichen Familienkonstellationen, die mit mehr oder weniger Fürsorgearbeit für andere belegt sind. Gäbe es keine Möglichkeit für Menschen mit Kindern, zusätzliche Unterstützung zu bekommen, und wären pflegende Angehörige ganz allein verantwortlich, würden Menschen sich wohl noch genauer überlegen, ob sie Kinder möchten, und Menschen, die auf Pflege durch andere angewiesen sind, wären vielleicht schlechter versorgt als heute. Denn was machte ein pflegebedürftiger Mann, der keine Angehörigen mehr hätte?

Jede Gesellschaft funktioniert also nur dann auf lange Zeit, wenn Menschen sich umeinander kümmern und Fürsorgearbeit übernehmen – und das auch außerhalb ihrer eigenen Familien. Daher kann die Frage danach, wer sich um wen kümmert und wer dafür und wie bezahlt wird, niemals rein privat sein. Insbesondere die deutsche Regierungspolitik, die sich den Auftrag der Gleichstellung der Geschlechter in die Verfassung geschrieben hat, müsste daher weiter Konzepte für die Verteilung von Care-Arbeit entwickeln – oder Ideen dafür, wie man sie finanziell bewerten könnte, damit das Großziehen von Kindern Alleinerziehende nicht mehr in die Armut führt oder Frauen, die von ihren Partnern geschlagen werden, nicht aufgrund finanzieller Abhängigkeit bei ihnen bleiben. Damit es eine Option sein kann, die eigene Oma zu pflegen und gleichzeitig die eigene Miete zahlen zu können.

Die sogenannte Pflegekrise und auch der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen hängen auch damit zusammen, dass eine Wirtschaftspolitik, die Care-Arbeit nicht mitdenkt, dazu geführt hat, dass die Fürsorgearbeit für Alte und Kinder zum einen als Erwerbsarbeit nicht attraktiv ist, zum anderen aber auch nicht von Familienmitgliedern übernommen werden kann, weil sie eine bezahlte Arbeit brauchen. Pflege- und Kitakrise sind also Ergebnisse davon, was Adelheid Biesecker als nicht nachhaltiges Wirtschaften beschreibt.

Wer aktuell nach Unterstützung sucht, damit die Eltern versorgt sind, jemand die Kinder nachmittags aus der Kita holt oder der Fußboden nicht mehr klebt, hat unterschiedliche Möglichkeiten. Man kann die Global-Care-Chain bedienen und damit bewirken, dass Arbeitsmigrant*innen ihren Kindern über Skype beim Aufwachsen zusehen. Man kann zurück zu den eigenen Eltern ziehen, um sie zu pflegen oder die Enkel von ihnen betreuen zu lassen. Man kann schulterzuckend in Kauf nehmen, wie die eigene Beziehung zerbricht, weil man nach Feierabend nur noch Zeit fürs Aufräumen und Gute-Nacht-Geschichten-Vorlesen hat, aber nicht mehr für den anderen Erwachsenen. Man kann sich solange erschöpft und unzufrieden ins Büro schleppen, bis das Burnout sich nicht mehr verdrängen lässt. Oder man setzt sich dafür ein, dass alle Menschen mehr Möglichkeiten haben, ihr Leben zu gestalten und dass eine Debatte darüber, dass auch die Care-Arbeit wichtig und wertvoll ist, Teil davon sein muss. Adelheid Biesecker schreibt dazu: »Was dieses gute Leben ist, muss im gemeinsamen Diskurs immer wieder neu festgestellt werden. Gesellschaftliche Wohlfahrt ist so nicht allein monetär bestimmt, ist nicht eindimensional kalkulierbar, sondern kann nur vieldimensional und vielfältig entwickelt werden.«