Ist es radikal, auf nichts verzichten zu wollen?

Verzicht mag nerven, ist aber notwendig: für das ungeborene Baby, für das Klima und für die ganze Gesellschaft. Zeit, sich der Verantwortung zu stellen.

Foto: Paula Winkler

Verzicht nervt. Ich muss es wissen, ich bin schwanger. In jenen Momenten, in denen ich nüchtern auf einer Party zwischen immer stärker betrunkenen Kolleg*innen stehe, bin ich ausnahmsweise mit dem FDP-Chef Christian Lindner einer Meinung. Ich hätte gern ein Glas Weißwein, nicht ein trostloses Wasser oder eine Apfelschorle, die für mich neuerdings widerlich süß schmeckt. Doch wenn eine Person schwanger wird, beginnt eine lange Zeit des Verzichts, um eine andere Person zu schützen. Da hilft kein bockiges »Ich will nicht verzichten«, wie Lindner twitterte, mit positivem Schwangerschaftstest greift eine lange Verbotsliste, der man sich freiwillig unterordnet. Ich will ja auch nicht, aber von jemandem mit funktionierendem Uterus erwartet die Gesellschaft nun einmal, dass man von heute auf morgen verzichten kann und gleichzeitig beglückt lächelt. Schwangere schaffen das.

Unsere angeblich sehr innovative Wirtschaft ist nicht gerade bemüht, Weinliebhaber*innen alkoholfreie Alternativen zur Verfügung zu stellen. Sie schmecken alle furchtbar, obwohl ich eine von Millionen Schwangeren sein dürfte, die in den vergangenen Jahrzehnten gern mal ein gutes Glas alkoholfreien Wein getrunken hätten. Ich weiß nicht, auf welche Technik man bei der Klimarettung warten soll, wenn die Wirtschaft schon an einem simplen Getränk scheitert, für das es einen soliden Markt gäbe. Mir bleibt also nur Verzicht oder Abtreibung. Ich entscheide mich dafür, die empfohlenen Verbote für die Dauer der Schwangerschaft nicht als Zumutung einzusortieren, sondern als schlichte Notwendigkeit im Rahmen einer Verantwortung, die nur ich übernehmen kann. 50/50 scheitert das erste Mal schon in der Schwangerschaft. Ja, ich hege ein wenig Groll gegenüber meinem Partner, der in der Küche mit einem Bier am Herd steht, während er kocht, und jeden Tag essen kann, was er möchte. Aber sein Verhalten hat nun mal keinen Effekt auf das Baby. Wir würden lediglich gemeinsam am Tisch sitzen und beide genervt auf unsere Wassergläser schauen. Dem künftigen Kind hilft langfristig eher, wenn er seine Dienstreisen zu Fuß bestreitet. Dass er sich solidarisch mit mir quält, ist unsinnig.

Ab wann jemand Verzicht als Zumutung empfindet, lässt sich kaum vorhersagen. Denn es geht entscheidend darum, welche Sache es ist, von der die Trennung zu weh tut. Man kann ein Tempolimit auf Autobahnen verteufeln, während man gleichzeitig nur fettfreien Joghurt im Kühlschrank hat und Schokolade meidet. Denn in der eigenen Wahrnehmung fühlt sich das schnelle Autofahren frei an und die Diät vernünftig. Echte Hedonist*innen, die fortwährend den eigenen Gelüsten nachgeben, gibt es kaum. Gisbert zu Knyphausen singt »Und wir rauchen immer viel zu viel, doch wir sehn gut dabei aus, ja wir tun das mit Stil«, doch im modernen Lebensstil geben sich Genuss und Askese die Hand. Luxus und Selbstdisziplin. Freiheitsstreben und die Sehnsucht, das Leben mit einfachen Regeln zu ordnen. Vegan zu essen kann als große Tierliebe, Schlüssel zu strahlender Haut oder langem Leben verstanden werden, statt als Selbstkasteiung.

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Für vermeintlich gesunde Lebensentscheidungen hat sich die Phrase »Investition in sich selbst« etabliert. Wer einmal die eigene Ernährung umgestellt hat, merkt zudem irgendwann, dass die Lust auf die gestrichenen Lebensmittel weniger wird und irgendwann verschwindet. Man denkt schlicht und ergreifend nicht mehr darüber nach und lernt, Kolumnen auch mit Kräutertee statt mit Weißwein zu schreiben. Ich war fünfzehn Jahre lang Vegetarierin, esse mittlerweile wieder ein wenig Fleisch, und dennoch packe ich im Supermarkt spontan so gut wie nie ein Produkt aus totem Tier in den Einkaufswagen, da der lange Verzicht mir diesen Gedanken quasi herausprogrammiert hat. Über die Routine laufen Verhaltensweisen schließlich unbewusst ab, und man quält sich nicht mehr damit, etwas zu tun oder zu lassen. Daher passt das Bild nicht, Verzicht als langes Leiden darzustellen, das die Freude am Leben dauerhaft trüben wird. Die Willensstärke, ein Verhalten zu ändern, brauchen Menschen nur wenige Wochen lang. Dann ist es geschafft. Vielleicht weiß der Geschwindigkeitsfan gar nicht, was das für ein Freiheitsgefühl sein kann, mit einem Pferd über eine Wiese zu galoppieren. Ich bin sicher, auch er wird etwas finden, dass ihn genauso glücklich macht wie das schnelle Fahren. Er muss sich nur auf die Suche begeben.

Es passt nicht zu Vertreter*innen einer politischen Strömung, die auf das Leistungsprinzip setzt, dass gerade sie den Verzicht als unzumutbar beschreiben. Müssten sie nicht diejenigen sein, die sich mit Ehrgeiz und Biss nach oben gekämpft haben, für die es ein Leichtes wäre, weniger zu konsumieren oder seltener zu fliegen? Warum wird ausgerechnet von Liberalen geäußert: Was ihr tut, hat keinen Einfluss?

Denn Verzicht ist die von Liberalen so oft beschworene Eigenverantwortung. Solange wir auf Technik warten, die Umwelt und Klima retten soll, oder darauf vertrauen, dass sich ohne Protest etwas verändert, dass sich ohne Vorbilder etwas bewegt, geben wir Verantwortung an andere ab. Der Müll, den wir heute produzieren, liegt nun einmal ab morgen herum – es sei denn, wir vermeiden ihn. Auch wenn in den Klimaschutz-Debatten der letzten Zeit zutreffend festgestellt wurde, dass es falsch sei, ökologisches Verhalten zu individualisieren und die Idee zu füttern, dass Veganismus, Flugverzicht und Second-Hand-Mode allein die Erderwärmung stoppen könnten, wäre es genauso fatal, nun anzunehmen, man könne sich als normale*r Bürger*in aus der Gleichung nehmen. »Wer auf der Welt soll dieses Mehr der Deutschen mit einem Weniger kompensieren?«, fragt der Journalist Bernd Ulrich in seinem Buch »Alles wird anders«, denn im Vergleich mit anderen Ländern könnten die Menschen in Deutschland durch Verzicht ihren CO2-Verbraucht viel stärker senken als andere. Zudem lebten die finanziell stärkeren Schichten in Deutschland deutlich umweltschädlicher als die Menschen, die weniger Geld zur Verfügung haben. Wer also argumentiert, Klimaschutz dürfe nicht für den Einzelnen zu teuer werden, drückt sich um die Einsicht: Der Lebensstil der mittleren und oberen Schichten belastet das Klima um ein Vielfaches dessen, was »einfachere« Milieus beitragen. Wer es sich leisten könne, solle demnach damit anfangen, die umweltfreundlichen aber teureren Dinge zu kaufen – denn es gibt sie ja schon. Verzicht muss also nicht bedeuten, nichts mehr zu kaufen, sondern Geld anders auszugeben. Bio-Fleisch oder fair und ökologisch produziertes Kleid? Vielleicht reicht das Budget nicht für beides – aber mit einem hohen Gehalt hat man die Wahl, was man sich noch gönnt.

Wie schlimm ist der Verzicht auf Wirtschaftswachstum, wenn man dafür zurückbekommt, dass man auf dieser Welt noch auf lange Zeit an vielen Orten wohnen kann?

Während es mit der Eigenverantwortung im Privaten funktionieren kann, weil niemand uns abnehmen kann, gesünder, müllsparender oder klimaneutraler zu leben, ist das für die Wirtschaft ein vergleichsweise aussichtsloses Konzept. Bei der Frauenquote zum Beispiel setzte die Politik jahrzehntelang auf Selbstverpflichtungen und mahnende Worte. Die Geschlechterverhältnisse in Aufsichtsräten änderten sich erst mit einem entsprechenden Gesetz. Im Kapitalismus ändern sich viele Dinge eben selten durch Einsicht und Vernunft, sondern erst über klare Regeln oder wenn die Kosten des Handelns eine gewisse Schmerzgrenze überschreiten. Da jedoch in vielen Industriestaaten die Klimafolgen bislang keine im Alltag spürbaren Probleme verursachen und Kund*innen durch ihre Kaufentscheidungen bislang zu wenig Druck machen, müssen gesetzliche Regelungen notwendige Verhaltensänderungen vorschreiben und Verstöße gegen sie mit Strafen belegen, die Unternehmen weh tun.

Wie schlimm ist der Verzicht auf Wirtschaftswachstum, wenn man dafür zurückbekommt, dass man auf dieser Welt noch auf lange Zeit an vielen Orten wohnen kann? Was sind Arbeitsplätze wirklich wert, wenn sie zwar eine Reihe von Menschen mit monatlichem Einkommen versorgen, aber gleichzeitig die Lebensgrundlage für eine weit größere Masse Menschen kaputt machen? Eine Wirtschaftsweise, die natürliche Ressourcen nutzt und auf Menschen als Mitarbeiter*innen und Konsument*innen setzt, muss für Umwelt und Leben Verantwortung zu tragen. Tut sie das nicht, ist ihr Bestehen ohnehin von begrenzter Dauer. Natürlich kann man argumentieren, die Arbeitsplätze im Braunkohleabbau seien aktuell wichtig, aber damit erklärt man eben gleichzeitig, dass wie und ob künftige Generationen auf dieser Welt leben können, nicht relevant ist. Und nein, all die Corporate-Social-Responsibility-Initiativen von Unternehmen werden dem Anspruch ganzheitlicher Verantwortung nicht gerecht. Die Anforderung an Unternehmen muss heute sein, dass sie sich als Teil der Gesellschaft verstehen und dementsprechend ihre Verantwortung breiter definieren als rein ökonomisch. Gesellschaft, Wirtschaft und Politik können die Verantwortung in ökologischen Fragen nicht den jeweils anderen in die Schuhe schieben.

Für wen außer uns selbst wollen wir Verantwortung übernehmen? Für wie viele Menschen um uns herum können wir überhaupt Verantwortung empfinden? Wie sehr können wir uns öffnen für die Idee, dass unsere Entscheidungen nicht nur uns selbst betreffen?

Auf nichts verzichten zu wollen ist ohnehin schon eine Idee, die nur von Menschen so vehement vertreten werden kann, die die Wahl haben. Für die allermeisten Menschen auf dieser Welt ist es hingegen ganz normal, dass sie von den Dingen, die sie hilfreich, hübsch und angenehm finden, eher träumen als sie jemals zu bekommen. So ist der Ausspruch »Ich will nicht verzichten« vor allem trotzig und verweigert die Erkenntnis, dass nur der verzichten kann, der ohnehin viel hat. Das Privileg, genug Geld zu haben, kommt nun mit dem Nachteil, sich als Erstes verändern zu müssen.

Das Privileg, schwanger sein zu können, kommt mit dem Nachteil, erst im nächsten Sommer wieder etwas Alkoholisches trinken zu können. Wenn das dann überhaupt wichtig ist. Als ich mein erstes Kind bekam, dachte ich noch Monate vorher, das erste Essen nach der Geburt müsse Sushi sein. Tatsächlich aber war es mir dann gleichgültig. Ich hatte etwas viel Besseres bekommen, nach Monaten zumutbarer Entbehrung.