Nie ging es Kranken besser als heute: Es ist nicht lange her, da prägten Äther, Amputation und Aderlass den medizinischen Alltag. Die moderne Medizin wartet mit Kernspintomografie, künstlichen Hüftgelenken und minimalinvasiven Operationstechniken auf. Jährlich werden weltweit mehr als eine Million medizinischer Artikel in nahezu 20 000 Fachzeitschriften publiziert.
Das medizinische Wissen verdoppelt sich alle fünf Jahre. Bei allem Streiten und Feilschen ums Gesundheitssystem – darin sind sich Ulla Schmidt, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Ärztelobby einig: Der medizinische Fortschritt ist ein Segen.
Nur: für wen eigentlich?
In den Fachartikeln geht es vor allem um Detailkenntnisse, die für den gewöhnlichen Hausarzt keinerlei Konsequenzen haben. Politiker, Kassen- und Ärztefunktionäre bemühen den medizinischen Fortschritt vor allem dann, wenn es gilt, vor den Wählern und Beitragszahlern höhere Kosten und Zuzahlungen zu rechtfertigen. Doch wie steht es mit den Patienten? Hat sich ihre Situation tatsächlich verbessert?
Mythos I Mit neuen Diagnosemethoden lassen sich Krankheiten präziser bestimmen als je zuvor.
Mediziner wissen, dass für 90 Prozent aller Diagnosen eine ausführliche Krankenbefragung und die körperliche Untersuchung reicht. Augen, Ohren, Nase, Mund und Hände sind immer noch das beste Handwerkszeug eines Arztes. Dennoch schicken viele Ärzte ihre Patienten erst einmal zum Röntgen oder zur Kernspin- und Computertomografie, bevor sie selbst Hand anlegen.
Dieses Vertrauen in die Technik ist nicht begründet, wie man schon seit einigen Jahren weiß: 1996 wurden an einigen deutschen Universitätskliniken die Fehldiagnosen ausgewertet. Fehldiagnosen aus den Jahren 1959, 1969, 1979 und 1989. In diesem Zeitraum hatten Hilfsmittel wie Ultraschall, CT und Kernspin Einzug in den medizinischen Alltag gehalten. Trotz des technischen Fortschritts ging die Zahl der Fehldiagnosen keineswegs zurück. Obduktionen ergaben, dass zwischen 1959 und 1989 der Anteil nicht oder falsch erkannter Krankheiten konstant bei etwa zehn Prozent lag.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Volksleiden Rückenschmerzen - und der Mythos der Segen einer flächendeckenden Versorgung)
Oder betrachten wir die Rückenschmerzen. Sie sind das Volksleiden Nummer eins. Keine andere Krankheit verursacht mehr Arbeitsausfälle und Frühverrentungen. Doch in kaum einem Bereich der Medizin gibt es so große Unterschiede zwischen Befund und Befinden: In Röntgen-, CT- und Kernspinaufnahmen sieht man zwar bei den meisten Menschen starke Abnutzungserscheinungen – aber der Verschleiß sagt wenig darüber aus, ob jemand tatsächlich Rückenbeschwerden hat. In einer Untersuchung bekamen Radiologen und Orthopäden Hunderte Röntgenbilder und CT-Aufnahmen zu sehen. Etwa bei jedem dritten Fall erkannten die Mediziner krankhafte Prozesse, die eine Operation erforderlich scheinen ließen. Was die Knochenexperten nicht wussten: Man hatte ihnen Aufnahmen von beschwerdefreien Sportstudenten vorgelegt.
Fast die Hälfte aller 50-Jährigen hat sogar einen Bandscheibenvorfall und merkt nichts davon, wie die Auswertung von Röntgen- und CT-Bildern ergab. Umgekehrt gelten 90 Prozent aller Rückenschmerzen als »unspezifisch«. Es lassen sich also keine Auslöser für die Schmerzen finden – auch nicht mit modernstem Gerät.
Mythos II Die flächendeckende Versorgung mit Hightech-Medizin – ein Segen für die Menschen.
Eine Stadt von der Größe Münchens verfügt über etwa 30 Großpraxen, Kliniken und medizinische Zentren, die Patienten genauer auf Herzbeschwerden untersuchen können. Mit Hilfe von Herzkathetern färben Kardiologen Blutgefäße mit Kontrastmitteln und entdecken so mögliche Engstellen, die auf einen drohenden Infarkt hinweisen. Oft ist der Eingriff hilfreich, weil verengte Gefäße wieder geweitet werden. Die Zahl dieser Untersuchungen steigt jedoch rasant, in den USA werden heute etwa eine Million Patienten pro Jahr mit Herzkathetern untersucht, in Deutschland immerhin 200 000.
Viel zu viele, bemängelt eine Untersuchung im New England Journal of Medicine. Häufig hätten Patienten nämlich keinerlei Nutzen von dieser aufwendigen Prozedur.
Für die 1,3 Millionen Einwohner von München würden drei bis fünf Herzkatheter-Labore reichen. Doch keine Klinik, keine Großpraxis will auf die lukrative Untersuchung verzichten. Zu viele Patienten werden deshalb unnötig mit Herzkathetern traktiert.
Andererseits haben die behandelnden Ärzte weniger Erfahrung mit dem Eingriff, wenn sich 30 Kliniken die Arbeit teilen, die drei Kliniken bewältigen könnten. Beides geht zu Lasten der Patienten.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wer gesund ist, wurde nur nicht ausreichend untersucht. Und: Der Mythos, dass wir älter werden als jede Generation vor uns)
Mythos III Dank moderner Medizin werden wir so alt wie keine Generation vor uns.
Natürlich hat die Medizin enorme Erfolge vorzuweisen. Neue Operationstechniken, Herzschrittmacher, Transplantationen und andere Innovationen haben vielen Menschen geholfen oder sogar das Leben gerettet. Laut einer Berechnung hat die Medizin zwischen 1950 und 1990 die Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Industrieländern um etwa drei Jahre verlängert. Allerdings gibt es Dutzende Studien, die genau diesen Zusammenhang vehement bestreiten.
Realistisch sei der Anteil der Medizin daran, dass die Sterblichkeit an Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs zurückgegangen ist, allenfalls mit 15 bis 20 Prozent zu veranschlagen. In Zeiten der Hightechmedizin gerät aus dem Blick, wie wichtig Lebensumstände, Ernährung und Selbstheilungskräfte für die Lebenserwartung sind – also auch Faktoren, die wenig mit Medizin zu tun haben. Hygiene, Kanalisation, Kühlschränke und Gefriertruhen haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Menschen heute seltener an Infektionen oder verdorbenen Lebensmitteln erkranken und deshalb länger leben.
Mythos IV Regelmäßige Checks und Vorsorge – die beste Garantie für ein gesundes Leben.
Eine wichtige Form der medizinischen Behandlung kann darin bestehen, abzuwarten und die Kranken nicht gleich mit Tests und Pillen zu traktieren. Honoriert werden Ärzte für ihre Zurückhaltung jedoch nicht. Deshalb kommt es in der modernen Medizin zunehmend zur »Überdiagnostik« und »Übertherapie«. Gemeint sind Eingriffe, die das Wohlergehen der Menschen in keiner Weise verbessern. Im Gegenteil: Immer wieder werden vermeintliche Leiden therapiert, die nie Beschwerden verursacht hätten. Prostatakrebs etwa wächst bei den meisten Männern so langsam, dass sie nie etwas davon bemerken. Zwar hat die Hälfte aller 80-Jährigen Krebszellen in der Prostata. Die große Mehrzahl dieser Männer stirbt jedoch nicht an, sondern mit dem Tumor. Wer gesund ist, wurde nur nicht ausreichend untersucht, lautet ein gängiges Motto der Mediziner.
Auch die Europäische Gesellschaft für Kardiologie hat es beherzigt, als sie vor drei Jahren ihre Leitlinien zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Leiden präsentierte. Allgemeinärzte kritisierten im Fachblatt British Medical Journal daraufhin, mit den neuen Leitlinien und den stetig abgesenkten Grenzwerten für Blutdruck und Cholesterin würden die meisten Erwachsenen zu Patienten gemacht. Untersuchungen an mehr als 60 000 Norwegern haben ergeben, dass es tatsächlich kaum noch Gesunde gibt, folgt man Europas Herzexperten: Unter ihren Grenzwerten, etwa einem Blutdruck von höchstens 140 zu 90 oder einem Cholesterinspiegel von 193 Milligramm pro Deziliter Blut, bleibt nur ein Viertel aller Erwachsenen. Mehr als 90 Prozent der 50-Jährigen hätten demnach ein erhöhtes Risiko, frühzeitig Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Umgerechnet auf alle Erwachsenen wären es 76 Prozent.
Wem nützt es, den Großteil der Bevölkerung als Risikogruppe einzustufen?
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Mythos VI - Die Medizin ist für eine zunehmend alternde Gesellschaft bestens gerüstet.)
Immer häufiger ist nicht mehr nur von möglichen Komplikationen einer Erkrankung die Rede, sondern auch von Risiken der Prävention, Diagnostik oder Therapie. Die Medizin schafft sich damit einen Teil ihres Bedarfs selbst: Unter den Schlagwörtern »Screening« und »Risikominimierung« werden Gesunde vorbeugend untersucht und behandelt. Die Konsequenz in den Arztpraxen: immer mehr Gesunde mit Befunden ohne Bedeutung und Kranke ohne Befund.
Bei vielen Ärzten grassiert das Vorurteil, dass Patienten immer etwas aus der Praxis oder Klinik »mitnehmen« wollen – ein Medi-kament, aufwendige Diagnostik, einen Eingriff. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Patienten auch ohne Rezept zufrieden nach Hause gehen, wenn sich der Arzt Zeit genommen hat, ihre Sorgen zu zerstreuen.
Mythos V Ärzte wissen heute, wie wichtig die Psyche des Patienten ist.
Bis zu 40 Prozent aller Patienten, die einen Hausarzt aufsuchen, leiden an somatoformen Störungen. Das bedeutet: Der Körper signalisiert Beschwerden, ohne dass eine Ursache zu erkennen wäre. Bei Fachärzten klagen, je nach medizinischer Disziplin, sogar bis zu 50 Prozent der Patienten über solche unerklärlichen Symptome. Wenn die Beschwerden der Patienten chronisch werden und sie deswegen immer wieder Ärzte aufsuchen, kommt es im Mittel erst nach fünf bis sechs Jahren zu einer psychosomatischen Abklärung und Behandlung. »Dieses langwierige Doktor-Shopping ist für Ärzte wie Patienten fast immer eine frustrierende Erfahrung«, sagt der Münchner Psychosomatiker Peter Henningsen.
Dabei zeigte eine britische Studie, dass neun von zehn Patienten, die mit unerklärbaren Beschwerden in die Praxis kommen, Ärzten Hinweise auf ihre persönlichen Nöte gegeben hatten. Einige Patienten äußerten sogar, dass ihr Leiden vermutlich psychisch bedingt sei, sie sich gerade besonders ausgelaugt fühlten, aber keine schlüssige Erklärung für ihre Beschwerden hätten. Trotz dieser klaren Signale gingen mehr als drei Viertel der Ärzte aber nicht auf diese Gesprächsangebote ein, sondern schlugen das kleine ABC der Medizin vor – obwohl es kein Patient eingefordert hatte: Arzneimittel, Bildgebung (Röntgen, Ultraschall etc.), Chirurgie.
»Man könnte eine Menge unnötiger Maßnahmen in der Medizin vermeiden, wenn Ärzte auf die psychologischen Hilfeschreie ihrer Patienten anders reagieren würden«, sagt Peter Salmon, der Hauptautor der Studie.
Jeder Test kann zu neuen unklaren Entdeckungen führen, die einen neuen Krankheitsverdacht heraufbeschwören. Als UBOs (»unidentified bright objects«) bezeichnen Neurologen Signalunterschiede im Kernspin, die dazu verleiten, Bagatellbefunde überzubewerten, erneut abzuklären und Patienten zu verunsichern. Internisten kennen die Bestimmung von sogenannten Tumormarkern und anderen Laborwerten, die wenig aussagen, aber immer neue Kontrolluntersuchungen nach sich ziehen.
Durch den ärztlichen Aktionismus bekommen Patienten zudem das Signal, dass sie vielleicht doch recht haben, wenn sie eine körperliche Ursache ihrer Symptome vermuten. Die Patienten fixieren sich auf ein organisches Erklärungsmodell. »Der Patient behält dann seine Emotionen für sich und lernt, besser gleich zu sagen, wo es wehtut«, sagt der Psychosomatiker Henningsen.
Mythos VI Die Medizin ist für eine zunehmend alternde Gesellschaft bestens gerüstet.
Alte Menschen haben aus ärztlicher Sicht komplizierte Eigenschaften: Erstens werden sie häufiger krank. Zweitens leiden sie oft an mehreren Gebrechen gleichzeitig. Allen Fortschritten zum Trotz hat sich die Medizin nur unzureichend auf ihre größte und immer noch wachsende Klientel eingestellt: In den aktuellen Leitlinien und Therapie-Empfehlungen der Ärzte wird kaum berücksichtigt, dass alte Menschen anders leiden und anders krank sind als junge.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Mythos VII - Menschen sind zufriedener, wenn sie mehr für ihre Gesundheit tun.)
Altersmediziner der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore haben kürzlich beschrieben, welche absurden Folgen es in der Praxis hätte, würden die gängigen Leitlinien immer befolgt: Die Ärzte nannten als Exempel eine 79-Jährige, die an Diabetes, Bluthochdruck, chronischer Bronchitis, Osteoporose und Gelenkrheuma leidet. Eine typische Kombination in diesem Alter. Die ältere Dame müsste nach den Vorstellungen der medizinischen Fachgesellschaften zu fünf verschiedenen Tageszeiten zwölf Medikamente in 19 Dosierungen einnehmen. Außerdem müsste sie
ein Dutzend Empfehlungen beherzigen wie richtige Ernährung, spezielles Schuhwerk, mehr Bewegung.
Obendrein widersprechen sich einige der Empfehlungen und konterkarieren sich empfohlene Kombinationen von Arzneien: Das Mittel gegen Gelenkrheuma schwächt zum Beispiel die Wirkung der Tabletten gegen Bluthochdruck. Auf diese Weise werden Leib und Leben der Patienten gefährdet und gleichzeitig unnötige Kosten verursacht.
Mythos VII Menschen sind zufriedener, wenn sie mehr für ihre Gesundheit tun.
Eine Untersuchung im Fachmagazin Lancet ergab, dass sich Menschen in den USA weniger gesund fühlen als Bewohner des indischen Bundesstaates Bihar. Dabei wenden Amerikaner ein Vielfaches für ihre Gesundheit auf und haben eine weit höhere Lebenserwartung. Die Deutschen geben seit Jahren zwischen zehn und elf
Prozent des Bruttosozialprodukts für Gesundheit aus, doch das Land steht weder bei einschlägigen Gesundheitsparametern noch bei der Lebenserwartung auf den vorderen Plätzen. Nur in den USA und der Schweiz verzehrt das Gesundheitssystem prozentual ähnlich viel Geld.
Der amerikanische Ökonom Uwe Reinhardt warnte bereits vor einigen Jahren vor den Folgen, sollten die Gesundheitssysteme in ähnlicher Form weiter expandieren und sich an den Inhalten der Medizin nichts ändern: Die USA würden sich in ein riesiges Krankenhaus verwandeln, in dem jeder Bewohner entweder arbeite oder als Patient aufgenommen werde oder beides. Diese Prognose trifft wohl nicht nur auf die USA zu.
Mythos VIII Der medizinische Fortschritt – ein Segen für die Menschheit.
Die Geschichte beginnt wie ein Märchen, sie hat sich jedoch tatsächlich so zugetragen: Es war einmal ein älterer Herr, um die 80. Er arbeitete gern im Garten. Eines Tages bemerkte er eine Schwellung in seiner Leiste; seine Frau ermutigte ihn, zum Arzt zu gehen. Der Hausarzt diagnostizierte einen Leistenbruch und riet zur Operation. Während der Vorbereitungen im Krankenhaus bemerkten die Ärzte ein auffälliges EKG. Die Herzkranzgefäße des älteren Herren waren stark verengt, er würde eine Bypass-Operation benötigen. Vor einem solchen Eingriff werden die Blutgefäße untersucht – die Halsschlagader war ebenfalls verengt, das musste vor der Herzoperation be-hoben werden.
Dazu wurde die Arterie von innen ausgeschält, ein Routine-Eingriff. Leider löste sich dabei ein kleines Blutgerinnsel, trieb zum Kopf und verursachte einen Schlaganfall. Der Mann war halbseitig gelähmt und konnte nicht sprechen. In der Reha erholte er sich aber schnell wieder. Nach einem halben Jahr konnte sein Herz operiert werden, er bekam endlich die neuen Bypässe. Ein Jahr nachdem er die Beule in der Leiste bemerkt hatte, ging es ihm schon wieder besser. Auf der Seite, die gelähmt war, war er jedoch noch etwas geschwächt. Seinen Leistenbruch hatten die Ärzte immer noch nicht operiert, wozu auch: Er war ja jetzt nicht mehr so mobil.
Von Werner Bartens ist im Knaur Verlag gerade das Buch erschienen: »Sprechstunde – Woran die Medizin krankt – Was Patienten wollen – Wie man einen guten Arzt erkennt«.