Die Freiheit kam immer unverhofft. Man quengelte und jammerte, wollte nach Hause, hatte müde Augen oder nasse Socken, wollte erreichen, dass man später nicht baden muss oder wenigstens nicht Haare waschen. War natürlich alles furchtbar wichtig, wurde mit »Mama«, »Maaamaaaa«, »Maaaaaaaama« eingeleitet und von Ärmelziehen und Oberarmquetschen begleitet. Das muss ziemlich nervig gewesen sein.
Aber genau dann, als man es eben gar nicht verdient hatte, bekam man ein Stückchen Freiheit überreicht. Freiheit in Form von flüssigem Zucker in einer Plastikverpackung. Es sah aus wie etwas gegen Durst, aber wer dieses Getränk lesen konnte, dem sagte es mehr. Dem sagte es: Wenn du jetzt nicht weiter nervst, wenn du jetzt nichts forderst, nichts erbettelst, dann kannst du machen, was du willst. Was für ein Kinderglück, wenn man das endlich begriffen hat.
Es war ein No-Look-No-See-Agreement mit Plastikstrohhalm. Frag nichts, dann muss ich dir nichts verbieten. Heute verstehe ich, was meine Mutter meinte: Sie war wahrscheinlich in einer Unterhaltung, in dieser Tagesendstimmung kurz vor einer Zigarette oder einem spontanen Weißwein. Bestimmt hätte man schon lange vorher beobachten können, wie sie drauf ist und was sie braucht. Ich verstand es aber erst ab dem Moment, in dem mir per Zuckergetränk die Erziehungsunterbrechung amtlich überreicht worden war. Es war ein Go, ein allumfassendes Auffordern, sich um sich selbst zu kümmern. Und das taten wir dann.
Süße ist ein stabiler Träger von guten Gefühlen. Liebe und Zucker sind quasi miteinander verheiratet
Wir sind barfuß in die Büsche hinter dem Spielplatz gezogen, wo wir wegen der Spritzen, dem Gepinkel der Betrunkenen und der Hundehaufen eigentlich nicht hinsollten, wir sind geklettert, mit Loslassen ganz oben, höher Schaukeln, lauter Schreien, Matsche werfen, Matsche essen, ausziehen, Unterhosen tauschen, anspucken, Enten ärgern. Immer fröhlich ahnend, dass dieser Abend zu Pommes führen wird statt zu Abendbrot. Dass er nicht mit Zähneputzen enden wird, sondern auf dem Schoß der Eltern im Biergarten. Und begonnen hatte es immer mit einem Trinkpäckchen Zuckerwasser.
Süße ist ein stabiler Träger von guten Gefühlen. Liebe und Zucker sind quasi miteinander verheiratet. Schon in der Bravo bekommt man erklärt, dass nicht nur Eis und Beeren »süß« sind, sondern auch groß gewachsene, dunkelhaarige Mitschüler. Angeblich sagt man inzwischen, besonders attraktive Mitmenschen seien »Zucker«. In Filmen wird sich nicht beim Burger verliebt, sondern über der Crème brûlée. Und ach, Dessert ist selbst schon eine Metapher für Sex nach dem Abendessen, klar, wenn jemand zum Vernaschen ist.
Wenn es so etwas gibt wie eine Familienverliebtheit, dann überkam sie einen an diesen Capri-Sonne-Abenden. Diesen Abenden des universalen Loslassens der Eltern, die durchströmt waren vom Vertrauen in die Welt, das viel länger nachwirkte als jedes aufopferungsvolle Ausmalen, jedes konzentrierte Kastanientierebasteln oder geduldiges Rollschuhhandhalten.
Und es gehört zur Magie dieser Abende, dass an ihnen, obwohl die Kinder aufgedreht und unbeaufsichtigt im Dunklen noch zwischen Fahrradfahrern herumrennen, während die dazugehörigen Eltern ganz woanders sitzen und angetrunken flirten, außer Platzwunden und Wespenstichen nie irgendetwas passiert.