Unruhestifter

Russisch Koks ist ein Drink, der für genau eine Stunde alles durcheinanderbringt – und dafür nur Wodka, Zitrone, Kaffee und Zucker braucht. Und natürlich den Mond.

Foto: Maurizio Di Iorio

Russisch Koks ist mein schillerndstes Werkzeug in internationalen Barzusammenhängen, und ich liebe es, mit Hilfe dieses kleinen, aber spektakulären Drinks eine zärtliche Spur der Verwüstung im Kurzzeit­gedächtnis jener Menschen zu hinterlassen, die das Glück – oder das Pech – hatten, dabei gewesen zu sein. Fragen Sie ruhig nach, in »Jimmy’s Bar« in Frankfurt zum Beispiel, oder im »Lola Jeans« in Newcastle, im »Café Landru« in Nantes oder in jeder beliebigen Bar auf St. Pauli. Niemand wird sich an irgendwelche Details erinnern, aber viele sich bestimmt an den schönen Moment im Gehirn, an diese Geräusche – klick, ssswmmm, blubb –, und schon hatte sich alles, was eben noch schwer und kompliziert zu sein schien, einfach in Wodka, Zitrone, Kaffee und Zucker aufgelöst.

Hier einmal kurz zum Mitschreiben, für Barleute, Gastgeberinnen, Fans von Seancen: Je einen halben Teelöffel Kaffeepulver und Zucker vermischen und möglichst vorsichtig auf einer halbierten Zitronenscheibe platzieren. Wodka in ein Schnapsglas gießen, alles zusammen servieren, am besten gestapelt, am liebsten tablettweise. Den kleinen Zitronenkuchen möglichst unvorsichtig zu sich nehmen, gut kauen, den süßen Sand im Getriebe mit dem Wodka runterspülen, wichtig hierbei: Es muss ein Stück Mond in der Nähe sein, eine Sichel reicht.

Was genau geht vor sich, wenn ich zu später Stunde mit der Russisch-Koks-Idee anrücke und daraufhin Gruppen von Menschen in Ekstase geraten und sich quasi ineinander auflösen? Es ist so einfach. Der Mensch besteht ja fast vollständig aus Wasser. Das muss man bereit sein zu fühlen. Was mit dem menschlichen Wasser passiert, wenn es auf den Mond trifft, ist bekannt. Es gerät in Wallung. Fügt man dieser Unruhe noch Koffein, Zucker, Vitamin C und Alkohol hinzu, und ist dieser Alkohol dann auch noch водка (Russisch für Wasser) – muss ich es wirklich erklären? Oder reicht es, wenn ich das Gefühl beschreibe? Es ist, als würde sich das Wasser in den Bahnen erheben, zu tanzen anfangen, in Verwirrung fallen, sich zu einem Bogen spannen, den anderen, der Welt, dem Mond, dem Himmel entgegen, und dann, ja, dann: ist es sehr, sehr schön, bei Tageslicht betrachtet jedoch vermutlich einigermaßen peinlich. Es gibt Menschen, denen ich Jahre danach wieder begegne und die meinen Namen nicht mehr wissen, aber von Weitem mit dem Finger auf mich zeigen und rufen: »Oh nein! Russisch Koks!«

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Meistens fängt es so an, dass alle müde sind, nicht so recht wissen, ob jetzt weitermachen mit diesem ganz netten Abend oder lieber nicht, weil morgen früh klingelt ja der Wecker, und puh, was dann alles zu erledigen ist. Das sind die Momente, in denen ich den Kellner bitte, mir mal eben tief in die Augen zu schauen und gut zuzuhören, während ich meine Bestellung aufgebe. Russisch Koks zündet für genau eine Stunde alles an. Danach kann man ins Bett gehen und beglückt schlafen. Was aber niemand tut. Weil alle noch eine brennende Stunde im Mondlicht wollen. Und dann noch zwei, drei, vier, fünf. Sobald Russisch Koks im Spiel ist, so ist immer auch die Morgendämmerung ein Thema.

Manchmal, wenn ich selbst das eine Glas davon zu viel hatte und das Wasser in meinem Körper freidreht, packen mich zwei große Sehnsüchte, die sowieso schon schwer im Zaum zu halten sind, aber dann, hui. Erstens will ich mir unbedingt Arturo Vidal auf den Hals tätowieren lassen. Zweitens möchte ich Kneipenwirtin werden. Eine Mondscheinbar eröffnen. Es gäbe nur einen einzigen Drink auf der Karte, und Wasser, Wasser, Wasser.