Weniger Schönheit, weniger Trinkgeld

Unser Leser ist von den aufgespritzten Lippen der neuen Kellnerin in seinem Stammrestaurant irritiert – und kürzt unwillkürlich sein Trinkgeld. Ist das in Ordnung?

Illustration: Serge Bloch

»In meinem Stammrestaurant gibt es seit Kurzem eine weib­liche Bedienung mit derart aufgespritzten Lippen, dass ich mehr als erschrocken bin. Es ist für mich die ästhetische Verunstaltung eines eigentlich ausdrucksvollen Gesichts und steht für eine Vorstellung von Erotik und Weiblichkeit, die mir entschieden zuwider ist. Unwillkürlich tendiere ich dazu, das Trinkgeld zu halbieren, obwohl der Service tadellos ist. Will ich da jemanden bestrafen, weil sie nicht meinen Ideen von (weiblicher) Emanzipation entspricht? Hat nicht jeder Mensch das Recht, sich nach den eigenen Vorstellungen selbst zu gestalten? Andererseits: Ist Trinkgeld nicht auch Ausdruck dafür, dass man sich bei der Bedienung wohlfühlt? Was denken, fühlen, tun?« Norbert G., Heidelberg

Es ist ja nicht so, dass man nicht verstehen würde, was Sie meinen. Manche der ästhetischen Eingriffe, die Menschen an ihrem Gesicht vornehmen lassen, nötigen ihrem Umfeld eine hohe Schauspielkunst auf. Da kommt einem ­jemand entgegen, und man erschrickt, darf sich aber nichts anmerken lassen, weil das ja enorm beleidigend wäre. Und bei anderen sieht’s wiederum gar nicht so schlecht aus. Ach, was soll man sagen. Wer sein ganzes Leben lang glücklich mit seinem Aus­sehen ist, stehe bitte auf.

Ihnen möchte man raten, etwas gnädiger und besonnener zu sein. Trinkgeld gibt man für erhaltenen Service. Nicht dafür, wie die Servicekraft ihr Leben lebt oder aussieht. Mag sein, dass Ihnen die Kellnerin mit ­natürlicherem Look besser gefallen hätte, aber, wo Sie schon von weiblicher Emanzipation sprechen: Ist es nicht toll, dass Frauen heute völlig frei darüber entscheiden, wie sie aussehen wollen, und nicht mehr alles daran setzen, nur ja einem Mann, Männern zu gefallen? Im Grunde, wenn Sie es ernst meinen mit Ihrem Einstehen für Gleichberechtigung, müsste Ihnen das doch sympathisch sein. Allein dafür sollten Sie der Kellnerin schon so viel Trinkgeld geben, wie Sie es normalerweise für angemessen halten. Das sollten Sie sowieso, da ja, wie Sie schreiben, der Service tadellos ist.

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Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber dass Sie das Aussehen dieser Frau derart reizt, ist schon etwas ungewöhnlich. Möglicherweise steckt da noch ein unbewusster Aspekt dahinter, der etwas mit Ihrer Sicht auf Frauen, auf Erotik zu tun hat. Es könnte interessant für Sie sein, sich an anderer Stelle damit auseinanderzusetzen. Ich möchte Ihnen dazu raten, dieser offenbar tüchtigen Kellnerin sogar ganz besonders zugewandt zu sein. Sie scheint etwas an sich zu haben, durch das Sie menschlich noch wachsen können. Betrachten Sie es als Aufgabe, mit freundlichem Blick auf sie zu sehen.